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Land der Möglichkeiten
Sharon Bala schreibt in »Boat People« über die Nöte der Hungrigen und die Sorgen der Satten
Der glücklichste Moment für Mahindan sei der gewesen, als kanadische Schiffe sie umringten und Helikopter über ihren Köpfen dröhnten. Daran denkt Mahindan, während er in einem kanadischen Gefängnis sitzt. Bis zum Schluss von »Boat People« weiß man nicht, ob sich sein Wunsch erfüllt, in diesem Land Arbeit zu finden, eine Wohnung - und vor allem wieder mit seinem kleinen Sohn Sellian vereint zu sein.
Aber dies ist nicht einfach ein Buch der Empörung, das Sharon Bala geschrieben hat, auch wenn der Titel es vermuten lässt. Wie viele »Boat People« sind inzwischen in den Meeren gestorben? Allein im Mittelmeer, der gefährlichsten Route für Flüchtlinge, sind 21 000 Menschen seit 2014 ertrunken.
Die Schuld des reichen Nordens gegenüber dem globalen Süden konnte lange verdrängt werden. Nun werden wir mit ihr konfrontiert. Es macht beklommen. Dass da Menschen in Not zu uns kommen und Hilfe außer Frage steht, sagen die einen. Andere fürchten Veränderungen. Die Krise des eigenen Systems überschattet die Weltwahrnehmung. In einer Zeit, in der ohnehin viele meinen, alles würde nur schlechter werden, wächst bei manchen das Gefühl, der eigene kleine Wohlstand könne von Armut und Verbrechen bedroht sein.
Dieser Konflikt wird von Sharon Bala tiefer ausgelotet, als es gemeinhin üblich ist. »Boat People« war 2018 in Kanada ein großer Erfolg, gewann mehrere Literaturpreise und wurde in verschiedene Sprachen übersetzt. Was man zu Beginn der Lektüre nicht weiß, findet sich in den Anmerkungen der Autorin: »Im Oktober 2009 und August 2010 erreichten die Ocean Lady und der Frachter Sun Sea mit insgesamt über 550 tamilischen Flüchtlingen aus Sri Lanka die Küstengewässer von British Columbia.« Es gibt also einen realen Hintergrund, der zu recherchieren war.
Sharon Bala interessierte sich für die Geschichten der Asylsuchenden, deren Namen sie allerdings nicht nennen durfte, las eine Unmenge von Büchern. So öffnet ihr Roman den Lesern viele Wege zur Weiterbeschäftigung mit dem Thema. Ich jedenfalls wusste bislang noch kaum etwas über die Tamilen in Sri Lanka, über die Konflikte zwischen dieser Minderheit und der Mehrheit der Singhalesen, die Separationsbestrebungen, den Bürgerkrieg zwischen den Regierungstruppen und der LTTI (Liberation Tigers of Tamil Eelam), die von EU und USA als terroristische Vereinigung angesehen wird. So erklärt sich die abwehrende Haltung kanadischer Ordnungshüter im Roman gerade gegen diese tamilischen Migranten, unter denen sich schließlich Anhänger, Abgesandte gar der LTTI befinden könnten.
Mahindan hat tatsächlich einmal ein Fahrzeug der LTTI repariert, unter Zwang, wie er angibt. Aber hat er dabei auch den Sprengsatz angebracht, der später explodierte? Auf lange Zeit stecken die Asylsuchenden, getrennt nach Männern und Frauen in Gefängnissen fest. Der Staat nimmt sich immerhin Zeit zur Untersuchung der einzelnen Fälle. Zusammen mit dem Anwalt Gigovaz vertritt die Jurastudentin Priya die Verteidigung von Mahindan. Sie ist im Praktikum, hatte vor, sich auf Körperschaftsrecht zu spezialisieren. Von ihrer tamilischen Herkunft wollte sie nichts wissen, nun wird sie damit konfrontiert. Auf der anderen Seite Grace Nakamura von der Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde, smart und tough, mit einem Kanadier verheiratet und mit dem zuständigen Kabinettsminister befreundet. Der befürchtet, dass die LTTI Kanada als Basis für neue Anschläge nutzen will. »Wir werden unsere Grenzen vor Gangstern und ausländischen Kriminellen schützen«, und »ein falscher Schritt und wir werden von Schnorrern überrannt« - so redet er, um Wähler zu gewinnen.
Dass Mahindan bei seiner Ankunft von seinem sechsjährigen Sohn getrennt wird, ist eine Grausamkeit. Schließlich kommt der Kleine zu einer kanadischen Pflegefamilie - um seiner Zukunftschancen willen. Wir hören sein Weinen, sehen die Verzweiflung des Vaters, der ein Geheimnis bewahren muss, sonst droht ihm die Abschiebung.
Aber das Rechtsverständnis im reichen Norden - besonders rigide vertreten durch Amarjit Singh von der Grenzschutzagentur - kann die Lage der Menschen im armen Süden nicht erfassen, zumal in einem Bürgerkriegsland, wo der Einzelne oft kaum mehr frei entscheiden kann. Echte oder falsche Papiere? »Wir müssen den Schleppern das Handwerk legen«, sagt der Minister. Ja, sie verdienen am Leid, und doch müssen todgeweihte Menschen ihnen vertrauen und zahlen, wie es Mahindan tat, denn in dem von der LTTI bewachten Lager, von den Regierungstruppen beschossen, hätte er mit seinem Kind nicht überleben können. So viele Konflikte - Sharon Bala kann sie nicht lösen, aber sie hilft uns, von simplen Vorstellungen Abschied zu nehmen.
Die Autorin wurde 1979 in Dubai geboren ist 1986 nach Kanada gekommen und hat an den Universitäten von Kingston und Toronto studiert. Sie ist kanadische Schriftstellerin und hat tamilische Wurzeln, so wie auch die meisten ihrer Romanfiguren eine migrantische Vorgeschichte haben, die ihnen oft gar nicht bewusst ist. Ihre Eltern haben sie verdrängt, weil sie ganz und gar Kanadier sein wollten. Aber vor allem Kumi, die schon leicht demente Mutter von Grace Nakamura, kann das nicht mehr, seit ihr die Vergangenheit deutlicher aufscheint als die Gegenwart. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden in Kanada und in den USA schon seit langem eingebürgerte Japaner wie Verbrecher behandelt. Sie wurden interniert, ihr Eigentum war verloren, als sie wieder frei kamen. Und es gab vom Staat keinerlei Entschädigung. »Was sie uns angetan haben« - wenigstens eine Gedenktafel möchte Kumi haben.
Die Ungerechtigkeit, die Grausamkeit gegenüber Minderheiten, verständliche Autonomiestrebung wie die der Tamilen auf Sri Lanka, die der einfachen Bevölkerung oft nichts nützen, aber Waffenverkäufer profitieren davon - das ist ein weltweiter Flächenbrand, von dem wir nicht erreicht sein wollen.
Für Mahindan ist Kanada »ein Land der Möglichkeiten«. Daran hält er trotz seiner schlimmen Erfahrungen fest. Und für Grace kommt es irgendwann zum Wortwechsel mit dem Minister. »Wir werden nie mit Sicherheit wissen, wer Asyl verdient.« - »Abschieben. Fertig«, meint der. In diesem Moment mischt sich Graces kleine Tochter ein: »Es ist ein freies Land … Außer wenn niemand dich haben will.«
Sharon Bala: Boat People. A. d. Engl. v. Angelika Arend. Mitteldeutscher Verlag, 479 S., geb., 28 €.
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