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»Ein erster Schritt zur Organisierung«
Schweigen und Scheitern: Sahra Rausch über Klassismus an den Universitäten und den Kampf dagegen
Sie haben in dem Sammelband »Klassismus und Wissenschaft« einen autobiografischen Text über Ihre Erfahrungen als ostdeutsches Arbeiterkind im Universitätssystem geschrieben. Was war denn als Promovierende einer der Momente, in dem Sie gemerkt hatten, dass Sie nicht richtig dazugehören?
Ich erinnere mich an das erste Seminar an meinem Forschungszentrum. Viele angehende Doktorand*innen hatten sich dort ganz selbstbewusst hingestellt und gesagt: »Ich bin Soziologe« oder »Ich bin Soziologin«. Mir würde solch ein Satz noch immer nicht über die Lippen kommen, da es sich anmaßend anfühlt, mich als Sozialwissenschaftlerin zu bezeichnen. Ich war zudem überrascht, dass viele schon zu Beginn der Promotion angaben, eine Unikarriere anzustreben. Ich fragte mich, woher sie diese Selbstverständlichkeit nahmen, schließlich gibt es nur wenige Stellen.
Sahra Rausch ist Doktorandin am International Graduate Centre for the Study of Culture in Gießen und promoviert zur erinnerungspolitischen Aufarbeitung kolonialer Vergangenheiten in Deutschland und Frankreich. Außerdem ist sie Mitgründerin der Initiative »Just_unbefristet«, die sich für bessere Arbeitsbedingungen im akademischen Mittelbau einsetzt. Sie schrieb den autobiografischen Artikel »Akademisches Außenseitertum: Mit Vulgarität gegen die Trägheit des akademischen Systems« für den Sammelband »Klassismus und Wissenschaft: Erfahrungsberichte und Bewältigungsstrategien«. Sebastian Bähr sprach mit ihr über Klassensolidarität und Klassismus.
Worin zeigen sich konkret Klassenunterschiede im Universitäts- und Promotionsalltag?
Es sind zum einen eher kulturelle Aspekte, wie die Theaterstücke, die man gesehen haben, die Schriftsteller*innen, die man kennen, oder die Kunstwerke, die man schätzen sollte. Zum anderen muss man sich das Akademiker*indasein aber auch einfach leisten können, weil die Arbeitsbedingungen dauerhaft prekär sind. Ohne den Rückgriff auf familiäres Vermögen oder ein Erbe kann ein Leben auf ständig befristeten Stellen kaum finanziert werden. Ich weiß beispielsweise nicht, wie es ab nächsten Juli bei mir weitergeht, wenn mein Stipendium endet und ich sicher noch nicht mit meiner Dissertation fertig sein werde. Wenn man neben der Dissertation zusätzlich arbeiten muss, kann dies die Abgabe natürlich verzögern. Und dann die zahllosen Reisen, das Beherrschen mehrerer Sprachen - all das setzt bestimmte Ressourcen voraus.
Werden diese unterschiedlichen Ressourcen in der Universität thematisiert?
Ich musste leider feststellen, dass mein Ansprechen dieser Bedingungen oft mit Schweigen quittiert wurde. Nicht wenige sehen ihre Tätigkeit in der Wissenschaft auch nicht als Lohnarbeit, sondern als Privileg, das man dazu noch aus purem Idealismus betreibt. Diese Sichtweise führt oft zu einer Selbstausbeutung und verhindert eine Problematisierung der Zustände. Aber zum Glück ändert sich gerade einiges.
Zum Beispiel?
Bundesweit haben sich mittlerweile verschiedene AStA-Referate und Projekte gegründet, die sich gegen Klassismus engagieren, wie das autonome Referat »fakE - für antiklassistisches Empowerment« an der Uni Köln oder unsere »ClassMatters«-Initiative in Gießen. Dazu gibt es auch verstärkt Mittelbauinitiativen, die sich gegen Befristungen einsetzen oder noch umfassendere Arbeitskämpfe an den Universitäten organisieren, wie etwa die Basisgewerkschaft unter_bau in Frankfurt am Main. Untereinander Solidarität herzustellen, ist jedoch gar nicht immer so einfach, weil beispielsweise mancherorts das technisch-administrative Personal ganz andere Arbeitsbedingungen hat als der Mittelbau.
Ist es denn schon ein Erfolg, wenn es einfach »nur« mehr erfolgreiche Arbeiter*innenkinder an den Universitäten gibt?
Es ist dann nicht emanzipatorisch, wenn sich die Arbeiter*innenkinder allein anpassen, um den Anforderungen zu genügen. Dann wirken die Mechanismen der Disziplinierung. Statt kritisch den Unibetrieb zu analysieren, schauen sie dann vielleicht sogar selbst mit Herablassung auf die, die es nicht »geschafft« haben.
Sie haben selbst in Ihrem Text beschrieben, wie Sie im Laufe des Studiums mit »Verachtung« auf den Lebensstil Ihrer Eltern geblickt hatten. Wie war es dazu gekommen?
In der Universität traf ich auf eher linksliberale Student*innen mit einem intellektuellen Lebensstil, mit dem sie sich vom »Pöbel« abgrenzten. Ich wollte bei ihnen dazu gehören, musste mich dafür aber ihrem Lebensstil anpassen. Die sozialen Hintergründe blieben so verschleiert. Ich hatte es folglich als meine Unzulänglichkeit empfunden, bestimmte Dinge nicht zu wissen oder zu können. Mit der Feststellung, über ein höheres Bildungskapital als meine Eltern zu verfügen, grenzte ich mich dann zunehmend von ihnen und ihrer Lebensrealität ab. Im Laufe der Zeit musste ich erst meine eigene »Andersartigkeit« spüren, um meinen Klassenhintergrund erkennen zu können. Je mehr mir das gelang, desto stärker sah ich die ungleichen Zugangsvoraussetzungen und die dadurch existierende Gefahr des Scheiterns.
Sie schreiben in Ihrem Text, mit Bezug auf Ihren brandenburgischen Herkunftsdialekt, dass eine »Vulgarität« in der Sprache Ihre »Praktik des Aufbegehrens« ist. Was meinen Sie damit? Und inwiefern hängt die Identität »ostdeutsch« für Sie mit Klassenzugehörigkeit zusammen?
»Vulgär« ist ein herabsetzendes Wort, das eine Hierarchie markiert, die von den oberen Klassen etabliert und aufrechterhalten wird. Es steht dabei für das Ordinäre, das Einfache, das Ungebildete. Gerade auch ostdeutsche Dialekte werden mit diesen negativen Klischees verknüpft: Ostdeutsche reden demnach komisch, seien provinziell und ein bisschen doof. Mit dem bewussten Einsatz meiner vulgären Sprache will ich die ungeschriebenen Verhaltensregeln an der Universität aufdecken, die ja auch die Basis klassistischer Diskriminierung sind. Es geht also allgemein darum, Akzeptanz für andere sprachliche Formen jenseits akademischer Ausdrucksweisen zu schaffen, um so einen Platz im wissenschaftlichen Betrieb zu erhalten, ohne dass die eigene Herkunft geleugnet werden muss.
Sie beschreiben zunächst die kulturellen Klischees über Ostdeutsche, dabei gibt es ja aber auch ganz materielle Nachteile etwa bei Renten, Löhnen und beim Erben. Wie hängen für Sie Klassismus und Klassenkampf zusammen?
Es darf nicht darum gehen, die soziale Herkunft nur als eine individuelle Diskriminierungskategorie oder gar als eine identitäre Zuschreibung zu sehen. Diejenigen Autor*innen, die ich lese und die das Klassismuskonzept nutzen, wie Andreas Kemper und Francis Seeck, verknüpfen eine ökonomische Klassenanalyse mit kulturellen Aspekten. Der Klassismusbegriff kann letztlich dabei helfen, ökonomische Analysen zu bereichern, also zu erklären, wie Klassenzugehörigkeit hergestellt und abgesichert wird. Die Arbeit an dem Sammelband hat mir zudem noch deutlicher gezeigt, wie wichtig der Austausch über die eigenen Erfahrungen als erster Schritt zu einer Organisierung ist. Wenn Probleme als strukturell erkannt werden, kann daraus Engagement erwachsen.
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