Die twitterisierte Revolte

Die Stürmung des US-Kapitols: Wenn die sozialen Medien zugleich Mittel und Selbstzweck sind

  • Tom Wohlfarth
  • Lesedauer: 6 Min.

Manchmal kann man historischen Ereignissen beim Entstehen zusehen. Manchmal wiederum ist man sich nicht ganz so sicher. Vielleicht sind es aber gerade diese Momente, die mit besonders bedeutsamen historischen Umbrüchen einhergehen. Nur in welche Kategorie fällt nun die Stürmung des Kapitols in Washington D.C. durch aufgestachelte Trump-Anhänger vergangene Woche? Seriöserweise lässt sich das nun natürlich noch nicht endgültig entscheiden. Aber schon jetzt darüber nachzudenken, könnte dabei behilflich sein, über den Lauf der Geschichte künftig ein bisschen besser mitbestimmen zu können.

Zunächst muss man allerdings feststellen, dass diese Aktion sich sehr lange angekündigt hatte. Spätestens seit Donald Trump im September die rechtsextreme Gruppe »Proud Boys« dazu aufrief, sich bereitzuhalten, musste mit derartigen Ereignissen gerechnet werden. Umso erstaunlicher, dass diese »Zitadelle der Freiheit«, wie Joe Biden das Kapitol anlässlich der Ausschreitungen nannte, nicht besser gesichert war. Auch gibt es äußerst beunruhigende Bilder, die nicht unbedingt auf die allerschärfste Ablehnung der Proteste durch sämtliche Teile der für die Sicherung des US-amerikanischen Parlaments zuständigen Capitol Police schließen lassen. Das sah etwa während der Black-Lives-Matter-Proteste vergangenen Sommer reichlich anders aus.

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Das eigentlich Erstaunliche ist aber, dass dieses potenziell brandgefährliche, zumindest passive Zusammenwirken eines hoch sensibel beauftragten Sicherheitsorgans mit einem vermeintlich politischen oppositionellen Willen nicht etwa dazu führte, dass man ernsthaft versucht hätte, nach der Macht zu greifen, sondern stattdessen das Smartphone aus der Tasche holte, um Selfies zu machen.

Dieser Aufstand schien irgendwo zwischen Nazi-Demo und Insta-Story, zwischen Krawallnacht, Fantourismus und Adventure-Camp, zwischen Putschversuch und Kostümparty steckengeblieben zu sein. Dadurch wirkt dieser Inbegriff des politisch-revolutionären Akts, die Erstürmung des Parlaments, zugleich seltsam entpolitisiert und pseudorevolutionär. Wenn es nämlich, einmal im Herzen der Macht angekommen, gar nicht um die - mühsame und todlangweilige - tatsächliche Übernahme und Ausübung dieser Macht zu gehen scheint, sondern im Grunde nur darum, sie zu stören, ein bisschen zu randalieren, ihr halbstark die Füße auf den Tisch zu legen und dadurch sein aufsässiges Missfallen auszudrücken - oder auch einfach nur sich lustig zu verkleiden und ein bisschen zu gucken.

Interessant ist hier ein Vergleich mit der ganzen Reihe von echten politischen Protesten, bei denen die Organisierung über soziale Medien eine wichtige Rolle gespielt hat, vom Arabischen Frühling über die Indignados in Spanien bis zu den türkischen Gezi-Park-Protesten. Hier waren die sozialen Medien nur das Mittel zum politischen Zweck, eine mediale Hilfe zum Zweck der politischen Organisation.

In der Trump-Revolte dagegen sind - ganz dem Wesen ihres Anführers entsprechend - die sozialen Medien Mittel und Selbstzweck zugleich. Diese Bewegung ist derart trumpistisch durchtwitterisiert, dass sie zum Teil womöglich gar keine sinnvolle Vorstellung eines wirklich politischen Zwecks mehr hat - außer dem, die bestehenden politischen Institutionen zu beschädigen oder gar zu zerstören, aber eher durch eklatante Vernachlässigung als durch gezielten Angriff. Nur damit keine Missverständnisse auftreten: Auch diese Form des Aufstands, dieser unpolitisch-politischen Aktionen, ist für die Demokratie hoch gefährlich. Aber sie ist es vermutlich auf andere Weise, als die meisten von uns es sich im Moment noch vorstellen.

Einerseits entspricht es ziemlich genau der Strategie der sogenannten Neuen Rechten, sich nicht mehr als reine Schlägertruppe zu inszenieren, sondern vor allem als hippe Jugendbewegung. Das heißt in diesem Fall, nur genau so viel Gewalt anzuwenden, wie nötig ist, um an ein paar - oder besser noch einen Riesenhaufen - ultracoole Bilder zu kommen. Die millionenfache Verbreitung dieser Bilder in den neuen und alten Medien suggeriert dann, dass man es tatsächlich mit einer relevanten Bewegung zu tun hätte und nicht nur mit ein paar versprengten Knallköpfen. Bis die Bewegung dann wirklich zu wachsen beginnt. Wie erfolgreich diese Strategie bisher war, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass in den USA laut diverser Umfragen immer noch viel zu viele Wähler Trumps Lügen vom Wahlbetrug glauben, auch unter den Demokraten.

Wir haben es bei dieser explosiven Mischung neurechter Strategen mit allen möglichen verstrahlten Gruppen und wütenden Bürgern hier wie andernorts mit einer bislang weitgehend verdrängten Form von Mitte der Gesellschaft zu tun (auch wenn sie zum Glück - noch - keineswegs die Mehrheit bildet), die sich aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten und Milieus zusammensetzt und für deren Formierung und Mobilisierung die alternative Realität der sozialen Medien eine entscheidende Rolle spielt. Das Beispiel Trumps zeigt nur in emblematischer Weise, wie sehr etwa Twitter und Facebook lange enorm von den Empörungsspiralen profitiert haben, die sie und ihre Algorithmen selbst mit hervorgebracht haben.

Bemerkenswert ist nun freilich, dass ausgerechnet die Plattformen, die Trump und seine Bewegung nicht nur groß, sondern überhaupt erst möglich gemacht haben, inzwischen zu dem Versuch übergegangen sind, das Monster, das sie geschaffen haben, wieder unschädlich zu machen, sprich: Trumps Nutzerkonten zu sperren. Das ist nicht nur deswegen erstaunlich, weil große Plattform-Chefs - wie etwa Facebooks Mark Zuckerberg - inzwischen nicht nur mehr oder weniger unumwunden zugeben müssen, dass ihr Einfluss längst dem von Staaten und Regierungen gleichkommt. Nun zeigt sich, dass die Plattformen in Zeiten eines nationalen »Notfalls« (so Facebook-Vize Guy Rosen anlässlich der Sperrung von Trumps Konto) die Macht haben und durchaus zu ergreifen bereit sind, dem (leider immer noch) Oberhaupt der mächtigsten Regierung der Welt seine wichtigsten Kommunikationskanäle zu entziehen.

Ähnlich dem Eindruck, den die sozial-mediale Selbstinszenierung des Kapitolsturms erweckte, hat das Silicon Valley einen eigenen »Hang dazu, revolutionär zu sein, ohne irgendwas zu revolutionieren«, wie der deutsche Stanford-Professor Adrian Daub gerade in seiner fulminanten Ideengeschichte »Was das Valley Denken nennt« gezeigt hat. Was die Abschaltung von Trumps Kanälen angeht, muss man dieser systemwahrenden Tendenz womöglich dankbar sein - auch wenn sie in vielerlei Hinsicht fünf Jahre zu spät kommt. Vielleicht kommt sie aber auch immer noch zu früh. Denn man braucht nicht viel Fantasie, um sich Trump nun als Gründer eines eigenen riesigen, diesmal rein rechten Social-Media-Imperiums vorzustellen. Das würde vermutlich das Radikalisierungspotenzial seiner Bewegung noch einmal verstärken. Es könnte aber auch ihre Rekrutierungsfähigkeit in der breiten Bevölkerung mindern. Und das würde nicht zuletzt die Wirkmacht der von dieser Bewegung produzierten Bilder erheblich beeinträchtigen.

Der Bildwissenschaftler Horst Bredekamp sagte im Deutschlandfunk über die mögliche historische Bedeutung des Kapitolsturms, »es könnte der erste Bildproduktionsaufstand gewesen sein«, bei dem also die Hervorbringung von Bildern ein wichtigeres Anliegen sei als unmittelbar politische Folgen. Welche politischen Auswirkungen diese Bildproduktion allerdings in Zukunft noch haben wird, bleibt mit äußerster Vorsicht zu beobachten - und noch wichtiger: endlich sinnvoll politisch zu bekämpfen.

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