Akribischer Arbeiter
Nach neun Jahrzehnten ist der Historiker Günter Benser noch immer unermüdlich
Für das Ehrenkolloquium zu seinem 80. Geburtstag wünschte sich Günter Benser das Thema »Basisdemokratie und Arbeiterbewegung«, weil dieser historische Stoff aktuell sein und etwas mit seiner wissenschaftlichen Biografie zu tun haben sollte. Solcherart Kriterien für die Wahl von Forschungsaufgaben kennzeichnen seine geschichtswissenschaftliche Arbeit bis auf den heutigen Tag, da er seinen 90. Geburtstag feiert.
Demokratiegeschichte ist für den Jubilar immer zugleich kritische Auseinandersetzung mit eigenen politischen Erfahrungen und Anregung für die Verteidigung demokratischer Errungenschaften durch deren systemverändernde Weiterentwicklung. Bensers Blick auf die Geschichte ist auch autobiografisch geprägt. Der Arbeiterjunge aus Sachsen gelangte mit Fleiß und Ehrgeiz über das Abitur an einer Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (1951) und das Geschichtsstudium an der Leipziger Karl-Marx-Universität an das Berliner Institut für Marxismus-Leninismus (IML). Diesen Weg und seine Prägungen beschrieb er anschaulich in seinem Buch »DDR - gedenkt ihrer mit Nachsicht« (2000).
Anfangs widmete sich Benser der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung bis 1917, doch sehr bald entwickelte er sich zum Spezialisten für die Zeitgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. 1969 zum Professor berufen, konzentrierte er sich auf Quelleneditionen und Studien zur Vorgeschichte der DDR, eingeschlossen die Vereinigung von KPD und SPD zur SED. Je tiefgründiger er forschte und je mehr er publizierte, desto stärker empfand Benser den Konflikt, in den Historiker in der DDR durch das parteipolitisch auf den Kopf gestellte Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Politik mehr und mehr gerieten. So war es durchaus folgerichtig, dass er am 18. November 1989 auf der Großkundgebung im Berliner Lustgarten als ein Redner der innerparteilichen Opposition Verantwortung übernahm, für gesellschaftspolitische Veränderungen und die Erneuerung der SED auftrat. In den Folgemonaten bewährte er sich als Mitgestalter von deren Wandel hin zu einer Partei des demokratischen Sozialismus.
Unvergessen sind seine Verdienste um die Sicherung des Parteiarchivs der SED durch dessen Aufnahme in die Stiftung Archive der Parteien und Massenorganisationen der DDR unter dem Dach des Bundesarchivs. Als letzter, in der Umbruchszeit gewählter Direktor des IML formte er ein neues Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, das sich die Aufgabe stellte, Resultate bisheriger Forschungen kritisch zu prüfen, politisch verursachte Forschungslücken zu füllen und die Opfer stalinistischer Repressionen zu würdigen und zu rehabilitieren. Über dieses kurze Kapitel des bereits im März 1992 abgewickelten Instituts veröffentlichte er eine akribische Dokumentation: »Aus per Treuhand-Bescheid« (2013). Sie belegt eindringlich die schnöde Art und Weise, wie geschichtswissenschaftliches Potenzial des verschwundenen ostdeutschen Staates politisch absichtsvoll liquidiert wurde.
Benser arbeitete auch ohne institutionelles Hinterland weiter - in diversen Ehrenämtern, in der Rosa-Luxemburg-Stiftung, im Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung, auf internationaler Ebene wie bei den Internationalen Tagungen der Historiker in Linz (ITH), mit etlichen Büchern, Aufsätzen und Artikeln, darunter auch für diese Zeitung. Seine geschichtspolitische Aufklärung vermittelte viele wertvolle Denkanstöße, zum einen durch streng wissenschaftliche Analyse historischer Ereignisse und Prozesse und zugleich durch kritische Teilnahme am Diskurs um deren Deutung. Das hohe Ansehen, das Benser national und international genießt, verdankt sich nicht nur seiner fachlichen Kompetenz und Akribie, sondern ebenso seiner durch Überzeugung gespeisten Haltung sowie seiner Bescheidenheit und seinem Vermögen, zuhören und nachfühlen zu können, umsichtig und unaufgeregt zu diskutieren.
Vom Recht, mit 90 Jahren endlich das Rentnerdasein zu beginnen, wird Günter Benser nichts hören wollen. So dürfen wir uns auf weitere erkenntnisreiche Arbeiten aus seiner Feder freuen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.