Überleben in der Scheinwirklichkeit
Matt Ruffs neuer Roman »88 Namen« ist pfiffig geschriebene Prosa über Onlinekultur und Identitäten
Zuletzt wurde der 1965 geborene Matt Ruff durch die Feuilletons gereicht, weil die Verfilmung seines 2016 erschienenen Romans »Lovecraft Country« viel Aufmerksamkeit erhielt. Das hatte vor allem damit zu tun, dass die von HBO produzierte Serie, in der es um Rassismus in den USA geht, nicht lange nach dem Tod von George Floyd und den darauf folgenden Protesten ausgestrahlt wurde und damit hohe Aktualität besaß.
Matt Ruffs neuer Roman »88 Namen« handelt nur ganz am Rande von Rassismus. Das Thema spielt in der Familiengeschichte des in Kalifornien lebenden Ich-Erzählers John Chu eine Rolle, weil seine aus China eingewanderten Großeltern von einem Amok laufenden Neonazi erschossen wurden. Abgesehen davon dreht sich in dem Roman aber alles um virtuelle Realitäten - der Großteil der Handlung ist in Computerspielen angesiedelt, in denen man in dieser Fiktion in einer nahen Zukunft per Avatar herumlaufen kann. John Chu betreibt eine Firma namens »Sherpa Inc.«, die es Spielern mit viel Geld und wenig Erfahrung ermöglicht, mithilfe eines Teams im komplexen Online-Spiel »Call to Wizardry«, einer fiktionalisierten Version von »War of Warcraft«, Abenteuer zu erleben, ohne ständig an den Schwierigkeiten des nächsten Levels zu scheitern.
Legal ist diese professionelle Hilfestellung nicht, und wenn die Spielaufsicht davon Wind bekäme, würde John Chus Account zwangsweise gesperrt, was immer wieder passiert. Dann muss er sich mit einem neuen fingierten Namen anmelden - nur gibt es für diese Prozedur eine Obergrenze. Aber noch bleiben ihm die titelgebenden »88 Namen«. Probleme hat John Chu auch, weil seine Auftraggeber nicht immer zahlen. Das Internet bietet in dieser nicht weit entfernten fiktionalen Zukunft (es kommt gerade »Fast and Furious« Teil 17 in die Kinos) alle möglichen Schlupflöcher, um fleißig zu betrügen. Da scheint es ein Glücksfall zu sein, dass sich ein neuer Auftraggeber meldet. Aber Mister Jones hat von Online-Rollenspielen so überhaupt keine Ahnung. Offensichtlich kommt er aus Asien, ist eine hochgestellte politische Persönlichkeit und fordert nicht nur absolute Diskretion, sondern auch noch Zugriff auf Chus Rechner und die seiner Kollegen. Eigentlich ein No-Go, aber Chu stimmt zu. Als dann auch noch eine vermeintliche Agentin vorstellig wird, die gegen den reichen Auftraggeber agiert und Chu abverlangt, mit ihr zusammenzuarbeiten, schwant dem eingefleischten Online-Spieler Böses. Schließlich gibt es auch noch Hinweise darauf, dass der geheimnisvolle Fremde der nordkoreanische Diktator Kim Jong-un sein könnte. Wie soll John Chu diesem Schlamassel nur entkommen?
Hilfreich ist seine Mutter, die bei einer digitalen Anti-Terror-Einheit namens Zero Day arbeitet und ihren Sohn unterstützt, während der mit Mister Jones durch die komplexen Welten von »Call to Wizardry« marschiert und ein spektakuläres Abenteuer nach dem anderen absolviert. Keine Frage, Matt Ruff, der in seinen Romanen immer wieder gerne im Fundus der Popkultur wühlt und daraus pfiffige Prosa zu machen weiß, schafft es wirklich, diesen in weiten Teilen in einem digitalen Online-Universum spielenden Roman mitreißend und spannend zu erzählen. Da kreuzen gigantische Raumschiffe durch das Universum und liefern sich intergalaktische Schlachten. Elfen, Trolle und andere Fabelwesen jagen durch fiktionale Königreiche. Im Flugzeug geht es in eine asiatische Metropole, wo Horden wilder Zombies durch nächtliche Straßenschluchten ziehen. Oder man steht einfach an einem Tümpel und angelt, was jede Menge Punkte bringt, um seine Figur hochzuleveln. Den einen oder anderen Leser dürfte die vor Gaming-Sprache nur so strotzende Prosa etwas ratlos zurücklassen, wenngleich Matt Ruff am Ende des Buches immerhin ein Glossar angehängt hat, das die wichtigsten Begriffe erklärt.
»88 Namen« entwirft mit seinen zahlreichen hinter- und ineinandergeschobenen Erzählebenen fast so etwas wie ein kleines Kompendium der digitalen Online-Spielwelt in Prosaform und verknüpft das mit einem etwas überkandidelt wirkenden Thriller-Plot, der aber zu den bunten und fantastischen Erlebniswelten passt. Neben der Spielwelt von »Call to Wizardry« gibt es auch noch Lounges, in denen sich Spieler mit ihren Avataren, die ständig verändert werden können, treffen, sodass die Spielwelt wiederum in eine weitere digitale Scheinwirklichkeit eingebettet ist und über die unzähligen komplexen Teile des reinen Spiels hinausgeht. Immer wieder stellt sich die Frage, ob Spieler wirklich das sind, was sie vorgeben zu sein, was Alter, Geschlecht und Identität angeht.
Wie zu erwarten, geht es in den Contests zumeist sehr blutig und gewalttätig zu. Dass die Handlung dann irgendwann die digitale Welt im großen Showdown verlässt und die Gewalt in der Wirklichkeit plötzlich so ganz anders und viel schrecklicher als in der Spielwelt ist, ist dann fast schon zu erwarten. Dennoch wartet dieser rasante Roman am Ende mit einer überraschenden Wendung auf.
Matt Ruff: »88 Namen«. Fischer Tor, 336 S., geb., 16,99 €.
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