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Tempel des Anstoßes
Die indische Regierungspartei BJP versucht, die Geschichte umzudeuten und Muslime auszugrenzen
»Wir, das Volk Indiens, haben feierlich beschlossen, Indien zu einer unabhängigen, sozialistischen, säkularen und demokratischen Republik zu machen«, so steht es in der Präambel der indischen Verfassung. Jedes Jahr am 26. Januar, dem Tag der Republik, wird dieses Dokuments, das 1950 den Weg in die Unabhängigkeit markierte, feierlich gedacht. Durchaus auch als internationale Visitenkarte. Obwohl die Ideologie eines hinduistischen Indiens nicht dem Geist der Verfassung entspricht, sparte die seit 2014 regierende Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei) nicht an pompösen Auftritten am Unabhängigkeitstag.
Aber dieses Jahr ist alles anders: Es wird kein internationaler Ehrengast kommen und nur kleinere Paraden geben. Letztes Jahr besuchte der brasilianische Regierungschef Jair Bolsonaro die indische Hauptstadt, dieses Jahr hatte Premierminister Narendra Modi seinen britischen Kollegen Boris Johnson eingeladen. Aber wegen der aktuellen Pandemiewelle in Großbritannien hat der abgesagt. Dagegen haben zahlreiche Bauernorganisationen angekündigt, am Tag der Republik in Neu-Delhi gegen ein Gesetzespaket der Regierung zur »Förderung und Schutz von Bauern« zu protestieren. Sie befürchten, dass sie durch die neuen Gesetze nicht beschützt, sondern dem Preisdiktat von Agrarkonzernen und Supermarktketten unterworfen werden. Knapp die Hälfte der indischen Bevölkerung lebt von Landwirtschaft.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Im Hochsommer 2020, mitten im Corona-Lockdown, war Premierminister Narendra Modi nach Ayodhya gekommen. Die Kleinstadt in Zentralindien ist in den vergangenen Jahrzehnten zu einem bedeutenden Politikum geworden: Hier soll der neue Tempel für den hinduistischen Gott Rama erbaut werden. Zuvor stand dort die Babri-Moschee, die 1992 von den Anhängern der heutigen Regierungspartei, der Indischen Volkspartei BJP, zerstört wurde. Erst im November 2019 hatte das höchste Gericht in Neu-Delhi grünes Licht für den Bau des umstrittenen Tempels gegeben, der jahrzehntelang Gegenstand eines Rechtsstreits zwischen den beiden Glaubensgemeinschaften in Indien war.
Gekommen war Modi zur Grundsteinlegung für den Bau des Rama-Tempels, für den seine Partei und viele hindunationalistische Organisationen seit mehr als 30 Jahren mobilisieren. Der Start der Kampagne fiel damals zusammen mit der Marktöffnung Indiens und war der Beginn der politischen Erfolgsgeschichte der BJP.
Das Land, das Gandhi, weltweite Symbolfigur des gewaltfreien Widerstands, hervorbrachte, befinde sich heute auf dem Weg zum totalitären Staat, meint die indische Schriftstellerin Arundhati Roy gegenüber dem »nd« »Damals wurden zwei Arten von Totalitarismus freigesetzt: ein neoliberaler Marktfundamentalismus und dieser religiöse, hindu-chauvinistische Nationalismus«, erklärt Roy den Aufstieg der BJP. »Manchmal erscheinen diese Fundamentalismen zwar als widersprüchlich - der eine mittelalterlich, der andere modern, aber tatsächlich haben sie sich umgarnt.«
Der Neubau des Tempels war eines der zentralen Versprechen im Wahlkampf zum indischen Unterhaus im vorigen Jahr. »Dieser Tempel wird zu einem Symbol unseres Erbes, unseres unerschütterlichen Glaubens werden«, triumphierte Modi. Der Tag der Grundsteinlegung am vermeintlichen Geburtsort des Gottes Rama habe »eine ähnliche Bedeutung für das Land wie der Unabhängigkeitstag«. So wie »jeder Teil der Gesellschaft den Freiheitskampf unterstützt« habe, gründe der Bau des Tempels auf die »Zusammenarbeit von Menschen aus dem ganzen Land.«
Modi begann einst seine politische Karriere in der Freiwilligenorganisation RSS, die 1925 nach dem Vorbild von Mussolinis Schwarzhemden gegründet wurde. »Sie sprechen offen darüber, Indien zur hinduistischen Nation zu erklären und die Verfassung zu ändern«, so Roy, »Modi ist dort Mitglied, fast alle Minister und Abgeordnete seiner Partei auch.«
Damals, im Unabhängigkeitskampf gegen das britische Kolonialsystem, spielte die RSS keine Rolle. Gegen die beiden populären Persönlichkeiten, die eine gänzlich andere politische Linie verfolgten, kamen sie nicht an: Jawaharlal Nehru, der spätere Premierminister Indiens, und Mahatma Gandhi. Beide hatten Europa besucht und teilten weitgehend die antifaschistische Haltung ihrer dortigen Kontakte. Eine Zusammenarbeit mit den Achsenmächten Japan, Deutschland und Italien als Verbündete im Kampf gegen die britischen Kolonialherren kam für sie nicht infrage.
Eine tragende Rolle in der Unabhängigkeitsbewegung hatten hingegen die indischen Muslime. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung damals - das Kolonialreich umfasste auch das heutige Pakistan und Bangladesch - war weitaus größer als heute. Mit seinem Vergleich anlässlich der Grundsteinlegung grenzt Modi die gegenwärtig 170 Millionen indischen Muslime bewusst aus. Zwar waren auch zwei muslimische Repräsentanten bei der Feierlichkeit anwesend, sie hatten aber nur eine Alibi-Funktion. Seit der Zerstörung der Babri-Moschee gab es zahlreiche Pogrome und Lynchmorde an der religiösen Minderheit, begleitet von der Hasspropaganda vieler BJP-Politiker.
Hindunationalisten wollen seit Jahren die Unabhängigkeitsbewegung für sich vereinnahmen, um ihre Akzeptanz in der Bevölkerung zu stärken. Die BJP und ihre Kaderorganisation RSS pflegen zu diesem Zweck einen Opfermythos. Indien sei in der Geschichte immer wieder von »ausländischen Invasoren« überfallen worden, welche die hinduistische Bevölkerungsmehrheit unterdrückt hätten: erst die muslimischen Mogul-Herrscher, später die britischen Kolonialherren, die Indien bis 1948 regierten. Gandhi, die Ikone der Unabhängigkeitsbewegung, ist vielen Hindunationalisten verhasst: Sie machen ihn mitverantwortlich für die »Spaltung« des ehemaligen Kolonialreiches in Indien und Pakistan. Auch der Gandhi-Mörder Naturam Godse berief sich auf diese Ideologie; er warf Gandhi vor, gegenüber Muslimen zu nachgiebig gewesen zu sein.
Dass die Hindunationalisten mit ihrer Politik ausgerechnet in den letzten drei Jahrzehnten Erfolg hatten, ist kein Zufall. Bis Anfang der 90er-Jahre spielten sie politisch keine nennenswerte Rolle, die indische Bevölkerung wurde durch einen postkolonialen Konsens zusammengehalten: Der bestand unter anderem aus der Hoffnung, dass alle Inderinnen und Inder, egal welcher Kaste oder Religion, irgendwann an Wohlstand und Fortschritt teilhaben würden. Die aus der Unabhängigkeitsbewegung hervorgegangene Kongresspartei galt vielen - trotz Korruptionsaffären und Ränkespiele - bis dahin als Garant dieses Versprechens, das entgegen aller sozialen Missstände im kollektiven Bewusstsein verankert war.
Doch dieser Konsens wurde von der Kongresspartei selbst aufgekündigt: Auf Druck von Internationalem Währungsfonds und Weltbank musste sich das hoch verschuldete Indien Anfang der 90er Jahre dem Weltmarkt und damit der Konkurrenz um die günstigsten Produktionskosten öffnen, seine Wirtschaft deregulieren, das heißt unter anderem Subventionen für die Landwirtschaft zusammenstreichen, Zölle herunterfahren und ausländische Investoren ins Land lassen. Gleichzeitig ermöglichte die neoliberale Wende den indischen Eliten, sich schamloser denn je zu bereichern. Die soziale Schere ging immer weiter auseinander. Den Hindunationalisten gelang es mit ihrer indienweiten Kampagne zur Zerstörung der Babri-Moschee, dieses Vakuum zu füllen, indem sie eine »neue« kollektive Identität populär machten.
Der britische Historiker Perry Anderson spricht von einem »religiösen Kompensationsversuch, der wie eine Flutwelle kam«, als »die sozialen Versprechungen der Kongresspartei verblasst waren«. Heute sichern die Hindunationalisten den korrupten Eliten des Landes Macht und Wohlstand. Gleichzeitig suggerieren sie den niederen Kasten einen vermeintlichen gemeinsamen Kampf und lenken soziale Unzufriedenheit um in Hass auf andere Religionen und Minderheiten.
Renommierte Historiker stellen den für die BJP so wichtigen Mythos des Rama-Tempels infrage, darunter auch K.N. Panikkar, mittlerweile emeritierter Professor für Kulturgeschichte an der Jawaharlal-Nehru-Universität in Neu-Delhi. Wenn an der Stelle der Babri-Moschee zuvor ein Hindutempel gestanden hätte, wie die Hindunationalisten behaupten, müsste das in den schriftlichen Quellen des 16. und 17. Jahrhunderts auftauchen, so seine These. Viele dieser Quellen verwiesen stattdessen auf die tolerante Haltung des damaligen Mogulherrschers Babur gegenüber anderen Religionen. »Babur hat aus Rücksicht gegenüber Hindu-Heiligtümern sogar auf den Bau von Moscheen verzichtet«, so der Historiker, der den Mythos des Rama-Tempels auf das vorletzte Jahrhundert datiert. »Dass die Babri-Moschee anstelle eines Tempels errichtet worden sei, ist eine relativ neue Annahme«, erklärt der Wissenschaftler. »Ihren Ursprung hat sie in den Versuchen der Kolonialherrscher im 19. Jahrhundert, die Geschichte des Subkontinents umzuschreiben. Dabei haben sie die gegenseitige Feindschaft religiöser Gemeinschaften in den Mittelpunkt gestellt.«
In diesem Sinne sind die Hindunationalisten die Vollstrecker des kolonialen »Teile und Herrsche«, nicht aber des antikolonialen Vermächtnisses der Unabhängigkeitsbewegung, wie sie selbst gerne behaupten. Bisher ist es ihnen nicht gelungen, dadurch die sozialen Konflikte zu befrieden.
Auch wenn die BJP mit ihrer fundamentalistischen Agenda zweimal in Folge die absolute Mehrheit im indischen Unterhaus erringen konnte - das war über 30 Jahre lang keiner Partei mehr gelungen -, ist sie doch weit davon entfernt, auf die Unterstützung aller Hindus zählen zu können. Viele Hindus stehen der BJP nach wie vor skeptisch gegenüber. Über Jahrhunderte haben verschiedene Religionen auf dem Subkontinent zusammengelebt. Außerdem nimmt die Mehrheit der Hindus eine tolerante Haltung gegenüber anderen Religionen ein. Das unterstreichen auch die Wahlergebnisse: Zum Erfolg der BJP hat wesentlich das Mehrheitswahlrecht beigetragen. Zwar sind 80 Prozent der Inder Anhänger des Hinduismus, aber von den 604 Millionen Urnengängern stimmte nur ein Drittel für die Hindunationalisten. Angesicht der zersplitterten und schwachen Opposition reichte das allerdings für die absolute Mehrheit.
Der aktuelle Widerstand der indischen Bauern wird von großen Teilen der Gesellschaft unterstützt, einschließlich vieler Wissenschaftler und Intellektueller. Sollte der Protest weiter an Fahrt aufnehmen, wird er die Regierung und ihre religiösen Spaltungsversuche deutlich schwächen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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