Zauberwort Koordinierung

Wissenschaftler fordern eine effektivere Strategie gegen Corona in der EU

»Es geht darum, dass wir das Virus kontrollieren, und nicht, dass uns das Virus kontrolliert, wie es derzeit der Fall ist.« Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig bringt eine Strategie auf den Punkt, die 13 Wissenschaftler aus unterschiedlichsten Fachrichtungen vorschlagen, um in der EU Sars-CoV-2 effektiv eindämmen zu können.

Der am Donnerstag vorgestellte Corona-Aktionsplan verlangt eine gemeinsame Strategie und ein koordiniertes Vorgehen aller EU-Staaten. Dies werde jede nationale und örtliche Anstrengung wirkungsvoller machen, heißt es in einem in der Fachzeitschrift »The Lancet« veröffentlichten Papier. Die Autoren fordern darin, die Zahl der Ansteckungskontakte zwischen den Menschen zu verringern, zum Beispiel Homeoffice und Online-Unterricht zu verbessern. Auch sollten von den Einzelnen »kleine, stabile soziale Blasen« und stabile Gruppen zu Hause und am Arbeitsplatz bevorzugt werden gegenüber ständig wechselnden Kontakten. Die Einhaltung der AHA-L-Regeln und die flächendeckende Bereitstellung von FFP2-Masken gehören ebenfalls dazu wie eine deutliche Ausweitung der Antigen-Schnelltests.

Auch wenn strikte Reisebeschränkungen über Ländergrenzen und innerhalb von Staaten gefordert werden, ist die Strategie aus Sicht des Präsidenten des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München, Clemens Fuest, »mit dem europäischen Gedanken vereinbar«. So könnten »grüne Zonen« mit niedrigen Fallzahlen geschaffen werden, zwischen denen auch grenzübergreifend Urlaubsreisen wieder möglich würden.

Die Gruppe hat sich zwar dem Ziel »No/Zero Covid« verschrieben, doch damit ist nicht wirklich eine Null gemeint. Ein Inzidenzwert, also die Ansteckungsrate pro 100 000 Einwohner, von zehn sei »eine gute Zahl«, meint Virologin Brinkmann. Dann ließen sich nämlich wirklich alle Kontakte von Infizierten nachverfolgen, eine mögliche neuerliche Ausbreitung mit lokalen Maßnahmen »effektiv stoppen«. Im Gegensatz dazu orientieren sich die deutsche Regierung und die Bundesländer an einer Zielmarke von 50; aktuell ist der Wert erstmals seit Wochen knapp unter die Marke von 100 gesunken.

Der Aktionsplan der Wissenschaftler richtet sich klar gegen die bisherige Praxis in der EU, dass jedes Mitgliedsland sein eigenes Vorgehen hat. Das könne aus Sicht der Autoren schon wegen der Vernetztheit der Staaten nicht funktionieren und sogar die Erfolge eines Land bei der Zurückdrängung des Virus gefährden. Stattdessen gehe es eine einheitliche europäische Strategie, die dann auf lokaler Ebene nach dem jeweiligen Infektionsgeschehen umgesetzt wird.

Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen hält mittels einer solchen Strategie auch die Bedrohung durch Virusmutationen für nicht allzu groß. Sie verweist auf Irland: Dort breitet sich zwar die britische Mutation B.1.1.7 derzeit schnell aus, während die durch eine Lockerung über Weihnachten drastisch in die Höhe geschnellten Coronagesamtzahlen derzeit stark sinken.

Zur Forderung von Kollegen, sich auf den Schutz von Risikogruppen zu konzentrieren, meint Virologin Brinkmann: Die Unterstützung von älteren Menschen und Pflegeheimen müsse unbedingt verbessert werden. Doch da viele Menschen aus vulnerablen Gruppen zuhause lebten, sei ein besserer Schutz »extrem komplex«, solange das Infektionsgeschehen so hoch sei.

Auch zu einer ZeroCovid-Petition linker Aktivisten, die einen »solidarischen europäischen Shutdown« fordern, äußert sich Brinkmann ablehnend: Die ganze Wirtschaft herunterzufahren, wie dort gefordert werde, sei »überhaupt nicht nötig«. Es gehe um einen »klügeren und effektiveren Lockdown«. Ifo-Ökonom Fuest ergänzt, man müsse sicherstellen, dass die Wirtschaft nicht kollabiere, da sonst auch das Gesundheitssystem zusammenbreche. Er weist gleichzeitig Forderungen konservativer Politiker zurück, nach der Krise etwa im Sozialbereich zu sparen. Man dürfe nicht »die Defizite herunterprügeln«, sonst werde der Aufschwung gefährdet.

Und wie gefährlich sind die Anti-Corona-Maßnahmen eigentlich für die Demokratie? Generell halten die Wissenschaftler zusätzliche Verbote nicht für nötig. Eine Erweiterung der Corona-Warn-App und zum Beispiel QR-Codes beim Betreten von Restaurants seien vielleicht sinnvoll, aber ihr seien totalitäre Strukturen völlig fremd, sagt Brinkmann. Es gehe gerade darum, die alten Freiheiten zurückgewinnen. Letztlich entscheidet nicht der Staat über den Erfolg im Kampf gegen Corona, wie Physikerin Priesemann ergänzt: »Das A und O ist, dass die Menschen verstehen, was gemacht, und dass sie das umsetzen.«

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