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Brexit schürt Konflikt in Nordirland
Protestanten fühlen sich vom britischen Premierminister Boris Johnson verraten
Als der nordirische Parlamentsabgeordnete Stephen Farry am Dienstagmorgen zur Arbeit erschien, hatte jemand die Tür seines Büros mit zwei Worten beschmiert: »RIP GFA« - eine Abkürzung für »Ruhe in Frieden, Karfreitagsabkommen«. Eine unmissverständliche Drohung, dass der Konflikt, der mit diesem Abkommen vor über 20 Jahren beendet wurde, erneut ausbrechen könnte. Ähnliche Graffitis sind vergangene Tage in verschiedenen nordirischen Hafenstädten aufgetaucht. Besonders düster sind die Worte auf einer Mauer im Ort Larne, nördlich von Belfast: »Alle Grenzbeamten sind Angriffsziele«, stand dort in weißen Lettern.
In Nordirland werden solche Warnungen erst genommen. Die Behörden haben die Zollbeamten kurzerhand aus den Häfen abgezogen und Kontrollen vorerst ausgesetzt. Die nordirische Regierung will die Inspektionen von Tierprodukten, die eigentlich seit 1. Januar Vorschrift sind, »zum Wohl der Angestellten« stoppen. Auch die EU zog ihre Beamten von den Grenzposten ab. Mark McEwan von der nordirischen Polizei sagte, dass er zwar keine größeren Organisationen hinter den jüngsten Drohungen vermute, dass sie aber »Anlass zu Sorge« geben.
Seit Jahresanfang haben die Spannungen in Nordirland stark zugenommen. Eine Lokalbehörde sprach von einer »Welle von unheimlichem und bedrohlichem Verhalten«. Die Konsequenzen des Brexits könnten den Nordirland-Konflikt wieder aufflammen lassen. Insbesondere die nordirischen Unionisten, denen die Graffitis in den Hafenstädten zugeschrieben werden, protestieren gegen die Grenzbürokratie, die sie vom britischen Festland abzuschneiden droht.
Der Status von Nordirland war einer der schwierigsten Punkte bei den Brexit-Verhandlungen. Der Friede in der Provinz wurde 1998 mit einem fein abgestimmten Kompromiss zwischen den Konfliktparteien erreicht. Auf der einen Seite stehen die Unionisten (mehrheitlich protestantisch), die Nordirland als Teil Großbritanniens sehen; auf der anderen die Republikaner (überwiegend katholisch), die eine Wiedervereinigung mit der Republik Irland anstreben.
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Genau hier lag die Schwierigkeit beim Brexit. Mit dem Austritt Großbritanniens aus dem Binnenmarkt und der EU-Zollunion wurde diese Grenze zu einer EU-Außengrenze. Eigentlich hätte das bedeutet, dass erneut Kontrollen eingeführt werden - aber in beiden Teilen der irischen Insel führte das zu Bedenken, dass erneute »Troubles« folgen könnten. Die EU bestand darauf, dass es keine harte Grenze geben dürfe. Also willigte Boris Johnson ein, die Grenze stattdessen in die Irische See zu verlagern: zwischen Großbritannien und Nordirland. Die Provinz blieb faktisch Teil des EU-Binnenmarks.
Die Unionisten waren entsetzt. Ihnen kam dieses Nordirland-Protokoll wie Verrat vor, rückt die Provinz doch automatisch ein Stück weit von Großbritannien weg - das Gegenteil von dem, was sie wollen. Doch konnte Boris Johnson den Deal dank seiner großen Tory-Mehrheit im Parlament besiegeln.
Brexit verursacht wirtschaftliches Chaos
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Aber spätestens seit Anfang dieses Jahres ist klar, dass sich die Unionisten nicht damit abgeben wollen. Laut dem Abgeordneten Ian Paisley von der Democratic Unionist Party (DUP) hat das Nordirland-Protokoll das »empfindliche Gleichgewicht« zwischen den Communities gestört. Nebst der Symbolik der Grenze in der Irischen See geht es auch um handfeste Wirtschaftsinteressen. Die zusätzliche Bürokratie hat zu Lieferengpässen geführt. Supermärkte haben über leere Regale geklagt, weil viele Lastwagen in den Häfen steckengeblieben waren.
Premierminister Boris Johnson schrieb am Mittwochmorgen auf Twitter, dass »dringendes Handeln der EU« nötig sei, um »verbleibende Probleme bei der Implementierung des [Nordirland-]Protokolls zu lösen.« Kabinettsminister Michael Gove fordert die EU auf, bei den geltenden Regeln mehr Flexibilität zu zeigen. Angesichts dieser Probleme hat DUP-Chefin Arlene Foster gefordert, das gesamte Nordirland-Protokoll kurzerhand über Bord zu werfen. Damit wird sie jedoch kaum durchkommen. Der irische Außenminister Simon Coveney sagte unverzüglich: »Das wird nicht passieren.«
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