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Tante Emma fährt in den Steinwald
Nahversorgung in Dörfern ist vielerorts ein Problem. In der Oberpfalz gibt es ein interessantes Modell - das sich aber (noch) nicht trägt
Frau Ringer braucht Milch. »Aber nicht diese wässrige aus dem Supermarkt«, sagt die ältere Frau, die mit Einkaufskorb am Glockenturm im fränkischen Boxdorf steht, einem Weiler mit 50 Einwohnern, in dem es weder Gasthof noch Dorfladen gibt. Frau Ringer bevorzugt Milch vom Walerhof, die so gehaltvoll ist, dass sich Rahm oben in der Flasche absetzt. Die Kühe, die sie produzieren, stehen in Tirschenreuth, eine halbe Stunde Fahrt entfernt. Frau Ringer muss sich aber in kein Auto setzen, um die Milch zu kaufen. Die kommt zu ihr: im Dorfladen auf Rädern.
Das Geschäft biegt an diesem Dienstag pünktlich fünf vor halb eins um die Ecke. Es steckt im Aufbau eines Zwölftonner-Lkw, der nur knapp zwischen Gehöften und Scheunen hindurch passt. Als der Laden öffnet, lässt Frau Ringer ihrer Nachbarin Frau Kraus den Vortritt; wegen der Corona-Pandemie darf nur je eine Kundin ins Geschäft. Sie plaudert derweil noch mit einer weiteren Stammkundin. »Wenn wir kommen, ist das auch Gelegenheit für einen Ratsch«, einen Schwatz unter Nachbarinnen, sagt Verkäuferin Jutta Dötterl: »Dafür gibt es in den Dörfern ja sonst nicht mehr so viele Gelegenheiten.«
Boxdorf fliegt im Steinwald, einer idyllischen Region zwischen Fichtelgebirge und Oberpfälzer Wald. Bis zu 900 Meter hohe Berge aus Granit und Basalt, die dicht mit Fichtenwald überzogen sind; dazwischen blinkende Teiche und Weiden, auf denen Rinder der Rasse Rotes Höhenvieh grasen. Der Steinwald ist eine Urlaubsregion, in die Touristen zum Wandern, Radfahren und Angeln kommen, sagt Martin Schmid. Er ist Manager der Steinwald-Allianz, in der 17 Gemeinden mit rund 42 000 Einwohnern zusammenarbeiten: erst als Arbeitsgemeinschaft, seit 2010 als kommunaler Zweckverband. Die Allianz kümmert sich um touristische Projekte wie die Anlage von Radwegen; sie unterstützt die Vermarktung regionaler Bioprodukte wie Mohn und Rindfleisch; sie fördert die Entwicklung zur Öko-Modellregion - und sucht nach Wegen zur Verbesserung der Nahversorgung.
Das tut Not. In den 17 Steinwald-Gemeinden gibt es größere Orte wie Erbendorf oder Kemnath, wo teils mehrere Supermärkte und Discounter ansässig sind. Viele kleinere Orte aber sind ohne Einkaufsmöglichkeit. Von 93 Ortschaften mit über 50 Einwohnern seien 40 ohne Nahversorgung, sagt Schmid; dort leben 4230 Menschen. Kleine Läden finden oft keinen Nachfolger; große Ketten ziehen sich aus der Fläche zurück und konzentrieren sich auf rentable Standorte. Die Entwicklung ist in ganz Bayern zu beobachten: Fast ein Drittel der Gemeinden ist ohne Lebensmittelgeschäft, Tendenz sinkend. Im Nordosten des Bundeslandes, der durch den Niedergang der Porzellanindustrie gebeutelt ist, verläuft der Abbau noch schneller. Im Landkreis Tirschenreuth, in dem der Steinwald liegt, ging die Zahl der Lebensmittelläden von 2006 bis 2016 um 28 Prozent zurück.
Für junge, mobile Menschen ist das kein Problem: Sie setzen sich ins Auto und fahren in einen Supermarkt. Ältere und andere Menschen, die sich kein Auto leisten können oder wollen, stellt der Rückzug der Händler aber vor Probleme. Sie sind auf Nachbarn und Verwandte angewiesen, die sie zum Einkauf mitnehmen - oder auf den Nahverkehr, der aber oft lückenhaft und auch nicht eben preiswert ist. In der Steinwald-Allianz erkannte man das Problem und formulierte im Rahmen eines Integrierten Entwicklungskonzeptes eine Lösung: die »Einführung eines mobilen Bauernmarktes«, wie es zunächst hieß. Die ursprüngliche Idee: Produkte örtlicher Direktvermarkter, von denen es mehr als 30 gibt, sollten zu den Menschen in der Region gebracht werden. Das Projekt findet sich unter Nummer 27 in einem dicken Konzeptordner; die Skizze füllt nur ein A 4-Blatt. »Und jetzt«, sagt Allianz-Manager Schmid, »ist das so eine große Sache.«
Groß ist zum einen der - wie er jetzt heißt - Mobile Dorfladen, der an sechs Wochentagen auf drei Routen durch Orte wie Krummennaab, Oberwappenöst und Trevesen rollt. Der Kastenaufbau des Lastwagens, eine Spezialanfertigung, bietet 17 Quadratmeter Verkaufsfläche. Die unterscheidet sich kaum von dem Dorfladen, in dem Verkäuferin Dötterl 37 Jahre gearbeitet hat. »Hier sind nur Räder unten dran«, sagt sie. Es gibt ein Regal für frische Backwaren und eines für Produkte wie Reis, Nudeln oder Kekse. Es gibt Kisten mit frischem Obst und Gemüse, ein Kühlregal für Milch, Käse und Wurst, eine Ladentheke mit Kasse. Die Vielfalt der Waren ist nicht so groß wie im Supermarkt, lässt aber kaum Wünsche offen: Die Produktliste umfasst gut 500 Positionen. Außerdem können Kunden Bargeld abheben, Müllsäcke erwerben, für die sie sonst zur Gemeinde fahren müssten, und sogar Lotto spielen.
Im Mittelpunkt des Angebots stehen freilich die »Waren des täglichen Bedarfs«. Auffällig ist dabei, dass neben preiswerten Artikeln auch viele Produkte regionaler Erzeuger im Angebot sind, wie die Milch vom Walerhof oder Rinderschinken und Hackfleisch von der lokalen Erzeugergemeinschaft. Teilweise werden sie bei den Touren direkt von den Produzenten eingesammelt. Außerdem gibt es viele Produkte in Bioqualität und aus fairem Handel. Preiswert sind diese nicht; der Dorfladen im Steinwald ist kein rollender Discounter. Martin Schmid sagt, Kunden seien neben Senioren mit teils eher kleiner Rente auch junge Familien, die auf bewusste Ernährung achten: »Wir wollen regionales Spezialitätenmobil sein und gleichzeitig Nahversorgung für wenig Geld bieten.« Aber auch Milch und Brot sind teurer als beim Discounter. Die Kundinnen in Boxdorf sehen das nüchtern. »Ich spare Zeit und Fahrgeld«, sagt Frau Ringer: »Da kann ich hier auch ein Fünferle mehr ausgeben.«
Größer als einst geplant ist nicht nur der Laden, sondern auch das gesamte Projekt. Dafür arbeitet Schmid nun mit zwei Fraunhofer-Instituten zusammen; Unterstützung gibt es von der bayrischen Staatsregierung. Dort reichte die Steinwald-Allianz ihre Idee des mobilen Dorfladens ein, als diese ein Modellprojekt »Digitales Dorf« ausschrieb. Ziel sei es, »mithilfe von intelligenten digitalen Anwendungen die Lebenssituation zu verbessern«, erklärte Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU), als sie Ende 2016 die Gewinner bekannt gab. Aus 20 Bewerbern hatte eine Jury auch den Tante-Emma-Laden im Steinwald ausgewählt. Zu den Kriterien hätten »der Modellcharakter und die Übertragbarkeit der Projektidee« gezählt, sagte die Ministerin. Der Freistaat stellte für das Projekt »Digitales Dorf« über vier Jahre fünf Millionen Euro bereit.
Vom digitalen Aspekt des Ladens zeugt im Geschäft ein kleiner Kasten über der Kasse: ein Router, der den Laden mit Rechnern im Büro verbindet, auf denen das Warenwirtschaftssystem läuft. Wenn Frau Ringer in Boxdorf Milch kauft, kann in der Zentrale umgehend nachbestellt werden. Digital eingebunden werden sollen auch die Erzeuger, die ihre Waren über den rollenden Laden vertreiben. Und künftig sollen die Verkäuferinnen auch vorab erfahren, was ihre Kundinnen kaufen wollen: dank eines Online-Shops, der Bestellungen in Echtzeit übermittelt. »Die Kunden könnten bequem zu Hause einkaufen und den Einkauf ohne Zeitverlust am Lkw abholen«, sagt Schmid. Auch eine Lieferung an die Haustür sei denkbar.
Allerdings stellt sich die digitale Seite des mobilen Dorfladens als harte Nuss heraus, technisch wie rechtlich. »Onlinehandel ist extrem kompromisslos«, sagt Schmid. Eine erste Version musste wieder vom Netz genommen werden, weil Konkurrenten klagten, dass Produktangaben nicht so detailliert wir nötig aufgeführt waren. Zusammen mit Experten wurde nachgearbeitet. Die Architektur des virtuellen Ladens erwies sich dabei als weit komplexer als die des analogen Geschäfts. Schmid hofft dennoch, dass der Shop irgendwann im erhofften Umfang genutzt werden kann.
Er wäre wichtig, weil die Initiatoren des Projekts hoffen, dank Digitalisierung die Wirtschaftlichkeit des mobilen Dorfladens zu verbessern. Man wäre konkurrenzfähiger, würde mehr und jüngere Kunden erreichen. Bisher, daraus macht Schmid kein Geheimnis, kann von Rentabilität nicht die Rede sein. Zwar nennt er keine Zahlen zu Umsätzen. Der Aufwand, um 60 bis 80 Kunden am Tag zu versorgen, lässt es aber schwierig erscheinen, im harten Wettstreit mit Discountern zu überleben. »Ob wir gegen diese bestehen können«, sagt Schmid, »ist offen.« Der Auftrag, ein tragfähiges Modell zu entwickeln, »ist uns ins Stammbuch geschrieben.«
Bisher, formuliert er unumwunden, »sind wir gebettet«. Neben den Mitgliedskommunen, die sich an der eigens gegründeten Steinwald Dorfladen GmbH beteiligt haben, fördert der Freistaat Bayern das Projekt. Seit Jahresanfang kommen die Gelder nicht mehr aus dem Projekt Digitales Dorf, sondern aus einem Fördertopf für ländliche Entwicklung. Die Kommunen zahlen 30 Prozent Eigenanteil. Der Fahrzeughersteller MAN stellt den Lastwagen gegen Miete zur Verfügung. Zugleich ist die Menge der umgeschlagenen Waren im Vergleich zu stationären Märkten gering, was die Margen schmälert. Verkäuferinnen und Fahrer müssen entlohnt werden. Schmid setze auf Fachkräfte und faire Löhne; eine ehrenamtliche Struktur hält er nicht für praktikabel. All das bewirkt, dass sich der Dorfladen bisher nicht selbst trägt und die von der Regierung angepeilte »Übertragbarkeit« des Projekts auf andere Regionen »(noch) nicht gegeben« ist, wie es in einer Projektpräsentation heißt. Eine Förderung, so das Fazit, sei »notwendig, um den Geschäftsbetrieb aufrecht zu erhalten«. Zumindest für weitere drei Jahre ist sie sicher.
Ob sich Nahversorgung in ländlichen Regionen danach wirtschaftlich gestalten lässt oder ob andere Ansätze nötig sind, ist eine spannende Frage. Der Mobile Dorfladen aus dem Steinwald sorgt bundesweit für Furore. Schmid wird eingeladen, um ihn vorzustellen, einmal auch in Berlin. »Dort saß ich neben Vertretern anderer Modellprojekte«, sagt er: tolle Ideen, die freilich nach harten ökonomischen Kriterien eher nicht erfolgreich sind. Was wird daraus, wenn die Förderung endet? Oder müsste sie gar nicht enden? In Tirol darf der Staat Händlern auch dauerhaft unter die Arme greifen. Das schwarz-grün regierte österreichische Bundesland gewährt eine »Nahversorgungsförderung«. Ziel sei die Unterstützung kleiner Händler. Sie können 10 000 Euro erhalten, wenn sie sich für fünf Jahre zum Betrieb eines Geschäfts in einem Ort bereit erklären, in dem die Nahversorgung »ernsthaft gefährdet« ist. Gemeinden zahlen einen Zuschuss »in der Regel von zehn Prozent«. Angeboten werden muss ein »Grundsortiment«: Backwaren, Obst und Gemüse, Käse, Wurst, Zucker, »Öle/Fette«.
Der mobile Dorfladen im Steinwald verkauft das und noch viel mehr, was dazu führt, dass sich die Körbe und Taschen von Frau Ringer und Frau Kraus bis fünf vor eins gut gefüllt haben. Dann klappt Verkäuferin Jutta Dötterl die Tür wieder zu, und der Laden rollt weiter. Frau Ringer schickt ihm ein Lob hinterher. Im Laden bekomme sie alles, was sie brauche. »Hoffentlich«, sagt sie unter beifälligem Nicken ihrer Nachbarinnen, »gibt es das noch recht lange.«
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