Ein Leben in Angst

Die Thüringer Justiz steht wegen ihres Umgangs mit Fällen rechter Gewalt in der Kritik

  • Kai Budler
  • Lesedauer: 4 Min.

44 Verhandlungstage brauchte das Landgericht Erfurt, um Ende Mai 2017 zehn Neonazis zu Haftstrafen zwischen 26 Monaten und dreieinhalb Jahren zu verurteilen. Ein Angeklagter erhielt eine Bewährungsstrafe, vier wurden freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft hatte ihnen vorgeworfen, im Februar 2014 in Ballstädt die Feier einer Kirmesgesellschaft überfallen und zehn Menschen zum Teil schwer verletzt zu haben. Doch knapp drei Jahre nach der Urteilsverkündung gab der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe der Revision der zehn Angeklagten statt. Die Richter zweifeln nicht an der Täterschaft der Verurteilten, sondern sehen in der Urteilsbegründung des Landgerichts die formalen Anforderungen nicht erfüllt.

Damit muss der Fall vor der sechsten Großen Strafkammer des Landgerichts neu verhandelt werden. Die Opferberatung Ezra in Thüringen spricht von handwerklichen Fehlern bei der Erstellung des schriftlichen Urteils. Die anhaltende Straffreiheit der Täter sei für die Betroffenen der Gewaltattacke »absolut unverständlich«, sagte Ezra-Sprecher Robert Friedrich. Seit sieben Jahren müssten sie im Alltag des Orts mit etwa 700 Einwohnern »weiter in Angst leben und sich mit den Tätern auseinandersetzen«, die teils in der direkten Nachbarschaft wohnen.

»Aber auch der BGH muss sich fragen lassen, warum die Richter fast drei Jahre brauchten, um einen Beschluss zu fassen«, so Friedrich. Kurz nachdem bekannt wurde, dass der BGH die Erfurter Urteile kassiert hatte, forderte er einen zeitnahen Beginn des neuen Verfahrens, um »die Täter endlich rechtssicher zur Rechenschaft zu ziehen«. Doch noch immer ist kein Termin in Sicht. Die Räumlichkeiten am Landgericht reichten unter Pandemie-Bedingungen nicht aus, so ein Gerichtssprecher.

Die Pandemie ist auch der Grund, warum ein Verfahren gegen zwei Neonazis am Landgericht Mühlhausen verschoben wurde. Die Staatsanwaltschaft wirft Gianluca B. und Nordulf H. gemeinschaftlich begangene Sachbeschädigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und schwerem Raub vor. Sie sollen im April 2018 im thüringischen Eichsfeld zwei Journalisten angegriffen, teils schwer verletzt sowie ihre Fotoausrüstung gestohlen und ihr Auto beschädigt haben. Zwar legte die Strafverfolgungsbehörde ihre Anklageschrift bereits im Februar 2019 vor. Damit sie 19 Monate später zugelassen und die Verhandlung terminiert werden konnte, waren aber erst ein Richterwechsel und eine Verzögerungsrüge nötig.

Die Rüge stammt von dem Göttinger Rechtsanwalt Sven Adam, der einen der Journalisten als Nebenkläger vertritt und von einer »bemerkenswert zögerlichen Bearbeitung durch die Thüringer Strafjustiz« spricht. Adam forderte, der im März anstehende Prozess vor dem Landgericht Mühlhausen solle »auch für die Pressefreiheit entsprechend konsequent geführt werden«.

Welche Folgen eine derart lange Verfahrensdauer hat, zeigte sich bei einem Prozess im Sommer 2020 wegen eines Überfalls von Neonazis auf Besucher des »Autonomen Jugendzentrums« (AJZ) in Erfurt vor dem Amtsgericht der Landeshauptstadt. Im Mai 2016 hatten knapp 20 Rechte die Besucher des AJZ angegriffen, sie mit Reizgas besprüht, geschlagen, getreten und mit Bierflaschen beworfen. Von den ermittelten neun mutmaßlichen Tätern wurden nur zwei Männer angeklagt.

Ein Beschuldigter wurde freigesprochen, gegen einen Erfurter Neonazi wurde das Verfahren eingestellt. In der Begründung hieß es, wegen widersprüchlicher Zeugenaussagen habe den Angeklagten die Tat nicht nachgewiesen werden können. Die »Mobile Beratung in Thüringen« (Mobit) sieht die Schuld vielmehr bei dem seit »viereinhalb Jahre verschleppten Verfahren, das nur den Tätern zugute kam, die von verblassenden Erinnerungen profitiert haben«. Es entstehe der Eindruck, »dass der Überfall vom Rechtsstaat konsequenzlos hingenommen wird«. Die Opfer beklagen, dass vor Gericht ein politisches Motiv nicht thematisiert worden sei.

In diesem Fall kam es zumindest zu einer Verhandlung. Anders als bei der Anklage gegen zwei Neonazis aus Nordhausen, denen die Staatsanwaltschaft Landfriedensbruch und Körperverletzung vorgeworfen hatte. Sie sollen 2013 auf einem Stadtfest in Nordhausen zwei alternative Jugendliche angegriffen, beleidigt, getreten und geschlagen haben. 2015 und 2016 hatte es zwei Anläufe gegeben, das Verfahren zu eröffnen. Wegen überlanger Dauer ohne Urteil stellte das Amtsgericht Nordhausen das Verfahren mehr als sechs Jahre nach der Tat ein.

Ebenfalls knapp sechs Jahre dauerte es, bis das Landgericht Erfurt ein Urteil gegen Dirk Q. wegen »Körperverletzung mit Todesfolge« gefällt hatte. Der wegen rechter Straftaten polizeibekannte Q. hatte im Januar 2003 in Erfurt den 45-jährigen Hartmut Balzke und seinen Sohn aus der Punk-Szene angegriffen und geschlagen. Balzke schlug mit dem Hinterkopf auf den Gehweg auf und erlag kurz darauf seinen Verletzungen.

Der Täter war zu diesem Zeitpunkt unter zweifacher Bewährung, wurde aber weder festgenommen noch einem Haftrichter vorgeführt. Die zuständige Strafkammer erledigte erst tödliche Verbrechen, bei denen die Tatverdächtigen in Untersuchungshaft saßen. Als der Prozess 2008 gegen Q. begann, waren seine Einträge im Bundeszentralregister wegen Verjährung gelöscht, sodass er zur Urteilsverkündung nicht mehr vorbestraft war. Mit einer zweijährigen Bewährungsstrafe und Sozialstunden wurde Q. aus dem Gerichtssaal entlassen.

Balzke ist offiziell nicht als Opfer rechter Gewalt anerkannt. Die damalige Landesregierung nannte die Tötung 2012 ein »Ergebnis der Auseinandersetzung zwischen alkoholisierten Personen«. Das soll sich laut Landtagsmitgliedern aus Linken, SPD und Grünen ändern. Sie erklärten 2018, aufgelistete Todesfälle rechter Gewalt in Thüringen von einer unabhängigen und wissenschaftlichen Stelle überprüfen lassen zu wollen.

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