Regime agiert immer aggressiver

Die gesellschaftlichen Widersprüche in der Türkei Recep Tayyip Erdoğans spitzen sich zu

  • Max Zirngast
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Oberstaatsanwaltschaft in Ankara hat Ermittlungen gegen den unabhängigen Abgeordneten Ahmet Şık eingeleitet. Laut einer Mitteilung vom Freitag wird ihm Anstiftung zu einer Straftat vorgeworfen wegen Beiträgen in sozialen Medien zu den Studierenden-Protesten. Darin wird Şık mit folgendem Satz zitiert: »Diese Regierung wird nicht durch Wahlen abtreten, geht auf die Straße.«

Seit Anfang Januar wurden nach Angaben des Innenministeriums vom Donnerstag bei den landesweiten Protesten mehr als 500 Menschen festgenommen. Mittlerweile sind zehn Studierende in Haft. Ein Anwalt der Verhafteten, Özgür Urfa, sagte gegenüber »dpa«, zwei Studierende seien wegen »Widerstands gegen die Staatsgewalt« verhaftet worden. »Es ist eine politisch motivierte Entscheidung unter dem Druck der Regierung, Studenten als Terroristen zu brandmarken.«

Die Studierenden haben inzwischen einen offenen Brief an Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan gerichtet, in dem sie die Freilassung der Inhaftierten fordern und den Rücktritt aller vom Staat eingesetzten Hochschulrektoren und Dekane. Im Brief heißt es unter anderem: »Sie haben die Studierenden und Lehrenden unserer Universität ignoriert und einen Zwangsverwalter eingesetzt. Ist das, was sie gemacht haben, etwa legal?« Außerdem drücken die Studierenden im Brief ihre Solidarität aus mit den inhaftierten Vorsitzenden der linksgerichteten Partei HDP sowie mit Journalisten und Gewerkschaftern.

Die Gezi-Proteste im Juni 2013 haben in der Türkei eine Hegemoniekrise in Staat und Gesellschaft ausgelöst. Die Proteste, bei denen sich verschiedene Gruppen zusammenfanden, hebelten die üblichen Koordinaten politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzung aus: Angeführt vom damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan hatte das Regime große Probleme, einen Umgang mit der Dynamik der Protestbewegung zu finden.

Seither ist viel passiert: Besonders seit den Parlamentswahlen im Juni 2015, bei denen die AKP die absolute Mehrheit verlor, verschärft sich die Lage zusehends. Eingeleitet wurde ein Prozess der Faschisierung von den Kräften des Regimes, das zusehends als Koalition auftrat: Erdoğans AKP, die faschistische Partei der Nationalen Bewegung MHP (»Graue Wölfe«) und andere ultranationalistische Gruppierungen. Seither gab es mehrere Wahlen und Referenden, eine Verfassungsänderung für ein Präsidialsystem »alla turca«, Krieg im Äußeren und Inneren, einen Putschversuch, Ausnahmezustand, Hunderttausende Entlassungen aus dem Staatsdienst, die Schließung oppositioneller Medien und Vereine, unzählige Festnahmen und Verhaftungen zur Ausschaltung jeglichen Widerstands.

Trotz alledem konnten weder die Hegemoniekrise noch die wesentlichen, bei den Gezi-Protesten hervorgetretenen gesellschaftlichen Widersprüche auch nur ansatzweise gelöst werden. Immer wieder brechen sie auf, sei es in Form der kurdischen Bewegung oder der Frauenbewegung, sei es bei Protesten von Studierenden und Arbeiter*innen oder auch beim Widerstand gegen ökologischen Raubbau.

Auch in den vergangenen Monaten mit der Pandemie und der sich stetig verschärfenden Wirtschaftskrise, die sich in der Türkei vor allem auch als massive Verarmung eines großen Teils der Bevölkerung zeigt, gab es spürbar mehr Protest. Wenig erstaunlich ist dabei, dass es vor allem Arbeiter*innen waren, die ihre Rechte und einen Lohn jenseits des Hungerlohns einforderten. Aber letztlich blieben diese Proteste meist isoliert, selbst dann, wenn sie kleine Erfolge einfahren konnten. Die Proteste gegen die Ernennung von Melih Bulu als Rektor der Boğaziçi-Universität dauern nun seit über einem Monat an und weiten sich aus auf die ganze Gesellschaft.

Das ist genau das, was die Regimekoalition am meisten fürchtet. Dabei hat sie durch permanente Provokationen, durch eine aggressive Sprache, die vor allem LGBT+-Individuen als Zielscheibe wählte, selbst viel zur Ausbreitung der Proteste beigetragen. In der Woche seit dem 1.Februar gab es regelmäßige Proteste in Ankara und Izmir, darüber hinaus auch in kleineren Städten. Die Taktik der Polizei scheint zu sein, diese Aktionen sofort zu unterbinden und Teilnehmer*innen noch vor Demonstrationsbeginn festzunehmen. Am vergangenen Donnerstag gab es eine große Anzahl von Festnahmen in Bursa, Çanakkale und Samsun. Gleichzeitig wurden eine Demonstration von linken Organisationen in Kadıköy, İstanbul, attackiert und über 50 Personen festgenommen. Im Moment interveniert die Polizei nicht mehr in der Universität selbst. Das Regime hofft wohl, die Proteste innerhalb des Campus halten zu können.

Die meisten der bisher Festgenommen wurden wieder freigelassen. Die zwei Studierenden, deren Verhaftung die Proteste der letzten Woche ausgelöst hatte, sitzen jedoch immer noch in Untersuchungshaft. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag wurden zwei weitere Studierende verhaftet, während die anderen Beschuldigten unter Auflagen wieder freigelassen wurden. Am Justizpalast kam es während des Verfahrens zu Auseinandersetzungen zwischen Anwält*innen und Abgeordneten sowie der Polizei.

Der weitere Verlauf der Proteste ist nicht vorhersagbar, aber es sieht nicht so aus, als würden sie abklingen. Die Proteste an der Boğaziçi gehen weiter: Rektor Melih Bulu hat keine Legitimität, weder unter den Studierenden, noch bei den Lehrenden, die auch jeden Tag protestieren. Er dürfte langfristig kaum als Rektor zu halten sein. Jedoch wäre sein Rücktritt fürs Regime eine Niederlage, die die Akteure anderer gesellschaftlicher Dynamiken ermutigen könnte, ihre Forderungen offensiver zu vertreten. Selbst wenn die Proteste abklingen, ist es nur eine Frage der Zeit, wann in der Türkei der nächste gesellschaftliche Widerspruch aufbricht.

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