Regenschirme reichen nicht

Medizinethiker Ernst Luther zu Impfpflicht, Sonderrechten und Konkurrenz in Zeiten der Pandemie

Der Deutsche Ethikrat hat in der vergangenen Woche empfohlen, dass es keine Sonderrechte für bereits gegen Corona geimpften Menschen geben soll. Wie stehen Sie dazu?

Der Begriff Sonderrechte ist nicht klar definiert und kann unterschiedlich ausgelegt werden. Betrifft er Rechte am Ort, Reisen oder staatliche Vergünstigungen? Der Grundgedanke der Ethik sollte sein: Das Leben des Menschen ist unverfügbar und im Gleichklang zum Grundgesetz. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

Ernst Luther

Der Medizinethiker, geboren 1932 in Leoben in der Steiermark, »ein wunderschöner Ort«, wie er sagt, studierte Geschichte, Pädagogik und Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle, an der er dann bis 1992 lehrte. Luther hatte gesamtdeutsch die erste Professur für Ethik in der Medizin inne. Anfang der 2000er Jahre gehörte er der Ethik-Kommission des Bundestages an. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Buchpublikationen, darunter »Ethik in der Medizin«, »Ethik in der Krankenpflege« sowie »Ethik und Politik«, ein Buch über Albert Schweitzer. Luther lebt in Halle, hat fünf Kinder, zehn Enkel und 15 Urenkel. Mit dem Professor sprach Karlen Vesper.

Würden Sie für eine Impfpflicht, wie es sie in der DDR gab, plädieren?

Die Impfpflicht nach speziellen Altersgruppen hatte Vorteile. Sie schützte beispielsweise vor Sterblichkeit im Kindesalter. Die Grundidee dieser Pflicht folgte einer jahrhundertealten paternalistischen Tradition. So pflegte Christoph Wilhelm Hufeland, Leibarzt des preußischen Königs, seinen Monarchen in medizinischen Angelegenheiten zu ermahnen: »Hier bestimme ich.«

In der Zeit meiner Mitwirkung in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages für Recht und Ethik in der modernen Medizin fand eine heftige Debatte über das Verhältnis von Fürsorge, also Paternalismus, und Selbstbestimmtheit, Autonomie, statt. Sichtbar wurden die Konsequenzen in der Psychiatrie, betreffs Einweisung, Fixierung, Rodewischer und Wittenberger Thesen, Konzepte der Deinstitutionalisierung und so weiter.

Worum handelt es sich bei den Rodewischer und Wittenberger Thesen?

Um eine Reorganisation und Reformierung psychiatrischer und neurologischer Anstalten, Therapie und Rehabilitation, benannt nach den Orten, an denen diese auf Internationalen Symposien entwickelt worden sind. Sie beinhalten auch das Gebot sozialer Teilhabe und vor allem Toleranz gegenüber psychisch Erkrankten, die nicht mehr, wie von den Nazis, als die »Blöden« abgestempelt werden sollten. Die Thesen gaben in den 60er und 70er Jahren wichtige Impulse in Ost und West. Weitere Auswirkungen gab es zum Umgang mit Sterbenden. Es setzte sich - auch in der Öffentlichkeit - die Idee der Autonomie durch. Und unverkennbar fand auch das Impfen mehr Anhänger, Verständnis, um das auch heute geworben werden muss.

Hinsichtlich freier Wahl des Impfstoffes hat die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Alena Buyx, einschränkend gesagt: »Jetzt ist eher nicht die Zeit, Extrawünsche zu äußern.« Bedeutet die staatliche Verordnung von bestimmten Impfstoffen nicht auch eine Einschränkung des Grundrechts auf Selbstbestimmung?

Das »Jetzt« der Vorsitzenden ist ein Zeichen von Verantwortung. So lange noch ein viel beklagter Mangel an Impfstoff existiert, geht es um Hilfe für alle. In weiterer Zukunft kann es eine andere Sicht geben.

Die Wahl der staatlicherseits zur Verfügung gestellten Impfstoffe scheint sich außenpolitischem Kalkül zu verdanken. Der russische Impfstoff Sputnik beispielsweise ist hierzulande nicht verfügbar.

Es handelt sich eindeutig um ein Relikt des Kalten Krieges und dessen Bündnissysteme. Dementsprechend haben weder die Bundesregierung noch die EU gegen die international geächtete Besetzung von Guantanamo protestiert; auch nicht gegen die Kriege, die die USA in Europa, Asien und Afrika führten oder organisierten, von Strafmaßnahmen ganz zu schweigen. Man erinnere sich an die Zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhundert, als gemeinsamen Forschungen deutscher und russischer Ärzte normal waren. Stichwort: die Pawlowschen Versuche und die Untersuchung von Lenins Gehirn. Selbst ein so konservativer Wissenschaftler wie der Präsident der in Halle ansässigen Wissenschaftsakademie Leopoldina, Emil Abderhalden, berichtete in seiner Zeitschrift »ETHIK« stolz über diese Zusammenarbeit.

Knallharte Konkurrenz ist im Kampf um die Verteilung von Impfstoffen ausgebrochen. Man hat den Eindruck imperialen Gebarens seitens des Westens, respektive Nordens, auf Kosten der sogenannten Dritten Welt. Ethisch erscheint das Beharren der EU auf die ihr zugesicherten Impfdosen ohne Rücksicht auf andere nicht.

Das alte Thema des Nord-Süd-Konfliktes hat neue Nahrung bekommen. Ich stimme Ihnen da voll zu.

Beeinflusst Corona unser ethisches Verhalten negativ? Wird solidarisches Verhalten, international wie national, je länger die Pandemie dauert, brüchiger?

Ich sehe das anders. Erstens: Es gibt sie noch, die Solidarität, »die Zärtlichkeit der Völker«, wie Che Guevara es nannte. Und sie wirkt als Beispiel, etwa in Kuba. Das spornt Menschen an, vor allem jene mit einer kritischen Sicht zum gegenwärtigen Kapitalismus. Zweitens: Ich bin der Auffassung, dass auch gesellschaftliche Prozesse und Meinungen Halbwertszeit haben. Die Überlegenheit des imperialen Westens hat ihren Zenit überschritten. Das haben auch viele Bürger der DDR nach 30 Jahren Erfahrung mit dem kapitalistischen System erkannt. Es wird neu abgewogen.

Befürchten Sie mit dem Andauern der coronabedingten Einschränkung eine weitere Klassenspaltung in der Gesellschaft?

Ja, nehmen Sie die Ratschläge der Börsianer. Sie sagen eine Inflation voraus und empfehlen: »Tauschen Sie Geld in Gold, kaufen Sie Immobilien, kaufen Sie Aktien, dann sind Sie auf der sicheren Seite!« Muss man da noch über die Folgen rätseln?

195 Milliardäre zählt Deutschland und über 1,3 Millionen Millionäre. Sollten diese vom Staat zur Mitfinanzierung der Bekämpfung des Virus und zur Überwindung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen zur Kasse gebeten werden, sei es durch einen speziellen Corona-Fonds?

Gewerkschaften, Parteien und das soziale Netzwerk mögen es fordern. Gerecht wäre es allemal, aber das Grundproblem der weiteren Spaltung zwischen Reich und Arm löst auch solch ein Fonds nicht.

Mit welchen Argumenten würden Sie Corona-Skeptiker oder Corona-Leugner von der Ernsthaftigkeit der Situation zu überzeugen versuchen?

Überzeugen ist immer schwer, wenn jemand eine feste Meinung hat. Das Problem ist, man begegnet landauf, landab einem tiefen Misstrauen in die Politik der Bundesregierung, der Länderregierungen und selbst der Politiker in den Städten, die sich mit Sonderrechten ausgestattet haben, Selbstbedienung praktizieren. Es gibt Zweifel an der Wertung der Opferzahlen im Vergleich zu anderen Erkrankungen, auch hinsichtlich der Schwere der Erkrankung bei Alt und Jung und zu Folgeschäden. Ich kann nur darauf verweisen, dass diese international auftretende Pandemie mit Strukturveränderungen in den Viren der wissenschaftlichen Betrachtung bedarf. Ich bin überzeugt, dass es momentan keine bessere Lösung als die Impfung gibt.

Ein anderes, spezielles Problem ist das Gewicht ethischer Argumentation. In den 80er Jahren wurde über die Überzeugungskraft der Situationsethik gestritten, über die Auffassung von der Heiligkeit des Lebens und der Kraft religiöser Argumente, Glücksauffassung und so weiter. 1992 wurde an der Medizinischen Fakultät in Halle das Fachgebiet Ethik liquidiert, für über zehn Jahre. Ähnliche Bestrebungen hat der Medizinhistoriker Richard Toellner, Direktor des Instituts für Theorie und Geschichte der Medizin an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, für die alten Bundesländer beklagt. Übrigens: Ich kann mich noch gut erinnern, wie er mich 1992 in Halle besuchte und mir einen Kopierer mitbrachte: »Damit Sie besser arbeiten können.« Unsere universitäre Ausstattung in der DDR war teils international blamabel und blieb es noch eine Weile.

Toellner hat sich sehr kritisch mit der NS-Ärzteschaft auseinandergesetzt, »die Massenmord an Kranken als Normalität akzeptierte«, »ihren Auftrag verraten« und »moralisch versagt« habe sowie »mittelbar oder unmittelbar in juristisch zurechenbarer Weise schuldig« geworden ist.

Ja. Und ich habe in gewissem Sinne dazu beigetragen, als ich zum 25. Jahrestag der medizinischen Fakultät von Münster einen Brief schrieb, in dem ich an den einstigen Dekan dort erinnerte, der in der Nazizeit verfolgt wurde und sich das Leben genommen hat. Und an den man an der Fakultät sich nicht mehr erinnerte. Toellner vergab daraufhin eine Dissertation zum Thema. Daraus hat sich zwischen uns eine Freundschaft entwickelt, die bis zu seinem Tod 2019 hielt.

Zurück zu unserem Thema: Sind die von der Bundesregierung beschlossenen »Rettungsschirme« für Wirtschaft und Kultur ausreichend und nachhaltig?

Da halte ich es mit dem Theologen Helmut Thielicke aus Hamburg, der übrigens in der NS-Zeit Kontakt zum Widerstand hatte. Er meinte, die Kirche habe den Menschen nur Regenschirme in die Hand gegeben, Karl Marx aber die Großwetterlage verändert.

Bedenklich für mich ist auch: Wo ethische Argumente nicht überzeugen, wird schnell nach dem Recht gerufen.

Aus dem neues Unrecht erwachsen kann.

So ist es.

Wie lange hält uns Corona im Würgegriff?

Alle Fachleute halten sich in Prognosen zurück, weil die Daten zur Epidemiologie nicht dafür ausreichen. Ich mahne zur Geduld, weniger Lautstärke und mehr Empathie für die Betroffenen.

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