Was uns Gamestop nicht lehrt

Wer über die Börse klagt, darf von der Realwirtschaft nicht schweigen: Ein Kurzlehrgang zum Handel mit Wertpapieren am aktuellen Beispiel.

Kürzlich erlebten die Aktienmärkte einen kleinen Aufstand: In den USA tat sich eine große Gruppe Kleinanleger zusammen, organisierte sich über Chats und das Finanzportal Robinhood. Gemeinsam trieben sie den Kurs der Aktie des Online-Spielehändlers Gamestop in die Höhe und triumphierten damit über einige Spekulationsfonds, die auf einen Absturz der Gamestop-Aktie gewettet hatten. Einer der Fonds, Melvin Capital, ging fast unter. Ein Mythos war geboren.

Der Vorgang beschäftigt nicht nur Börsenaufseher, Anleger und den US-Kongress, sondern auch das breite Publikum. Denn hier wird eine populäre Geschichte erzählt: die der kleinen Davids, die die Goliaths mit ihren eigenen Waffen schlagen und damit einen Sieg erringen gegen die Wall Street, also gegen die Herren des Geldes, die mit irrationalen Spekulationen Milliarden kassieren, während der Rest der Menschheit unter Pandemie und Krise leidet. Eine schöne Geschichte, die einige Missverständnissen beinhaltet darüber, worin das Geschäft der Finanzmärkte und ihre Macht besteht.

»Es profitieren die Mächtigen«

Die Börse übt große Faszination aus. Sie wirkt wie eine geheimnisvolle Maschine, deren Mechanismen nur mit einem komplizierten englischen Fachvokabular zu verstehen sind - von »daytrades« über »short squeezes« bis zu »margin calls«. Sie bedient das Bedürfnis nach Auskennertum. Ihr eigentlicher Charme und ihre Autorität aber resultiert daraus, dass man in Sekunden reich oder ruiniert werden kann. In einer Welt, in der die meisten Menschen gerne mehr Geld hätten, bedeutet das Faszination pur.

Gleichzeitig liegt hier die Quelle für die Wut auf die Märkte. Während viele Betriebe um ihr Überleben und Millionen Menschen um ihren Job fürchten, steigen die Aktienkurse auf immer neue Rekordhochs. »Aber nur wenige haben davon profitiert«, kritisiert Kenan Malik im britischen »Guardian«. Und jene, die profitierten, sind die ohnehin Reichen. In den USA gehören etwa 90 Prozent aller Aktien den wohlhabendsten zehn Prozent der Haushalte. Das liegt in der Logik des Systems. Weltweit konzentriert sich das Eigentum an Unternehmen in den Händen weniger Personen. Und sie sind es, die die Reichen stellen. Die Mächtigen profitieren, eben weil sie die Mächtigen sind. Das ist keine Besonderheit des Finanzmarkts.

»Kein Nutzen für Realwirtschaft«

Die »Kleinen« wiederum, deren Arbeitsplätze an der Realwirtschaft hängen, haben nichts vom Aktienboom, so lautet eine weitere Kritik. Denn »anstelle von produktiven Investitionen sind Spekulationen zum Treibstoff des Aktienmarktes geworden«, schreibt Malik. So habe der Pharmakonzern Merck mehr Dollarmilliarden in Rückkäufe eigener Aktien gesteckt als in Forschung. Und mit dem Geld, das der US-Einzelhandelsriese Walmart an der Börse ausgab, hätte er »einer Million seiner am schlechtesten bezahlten Mitarbeiter eine Lohnerhöhung von 50 Prozent zukommen lassen können«.

Diese Kritik lebt von der Vorstellung, es habe eine Zeit gegeben, in der die Börse Geld bereitstellte für Unternehmen, die Arbeitsplätze schaffen und Nützliches produzieren. Diese Zeit hat es nie gegeben. Inhalt und Zweck des Aktienhandels war immer nur Profit: Wertpapiere billig erwerben und teurer verkaufen. Nur um für diese Operation Spekulationsmaterial zu bekommen, kaufen Anleger Unternehmen neue Aktien ab.

Umgekehrt nutzen Unternehmen das Spekulationsinteresse der Märkte, um sich Geld zu beschaffen. Dieses Geld dient aber auch in der Realwirtschaft demselben Zweck wie an den Finanzmärkten. BMW stellt nicht Autos her, um irgendwen mit Fahrzeugen und andere mit Jobs auszustatten. Jobs und Autos sind Mittel des Profits, nicht umgekehrt. Und für den Profit ist es egal, womit er erzielt wird - Autos sind so gut wie spekulative Derivate oder der Rückkauf eigener Aktien. Dass von diesen Rückkäufen bloß die Aktionäre des Unternehmens profitieren, ist eine merkwürdige Kritik in einer Wirtschaft, in der Unternehmen produzieren, um ihre Eigentümer reicher zu machen.

Ob das Geschäft von BMW funktioniert - ob die Autos Gewinn bringen - erweist sich erst im Nachhinein. Erst nach der Investition, wenn die Autos produziert und auf dem Markt sind, zeigt sich, ob die Rechnungen aufgegangen, ob »reale Werte« geschaffen worden sind oder Ausschuss. Auch die Realwirtschaft spekuliert auf künftigen Profit, wenn sie investiert.

Realwirtschaft und Finanzmärkte funktionieren also nach gleichem Muster. Deswegen passen sie so gut zusammen. Der Aktienhandel ist keine Perversion des Systems, sondern folgt seinem Prinzip - die Vermehrung von Investitionssummen - und zwar in reiner Form, ohne Umweg über Produktion und Verteilung. Wer der Börse »Absurdität« bescheinigt, zeigt nur, dass er an die Wirtschaft andere Zwecke heranträgt, als dort gelten. Und wer erst an der Börse das Profitprinzip am Werk sieht, kommt zu spät und muss sich wundern, dass Walmart an den Märkten spekuliert, anstatt jene besser zu bezahlen, auf deren Armut sein Erfolg und sein Börsenwert beruht.

»Die Börse ist irrational«

Dass die Aktie von Gamestop in kurzer Zeit von fünf auf 350 Dollar stieg, dann wieder abstürzte und sich in der ganzen Zeit die Geschäftslage des Unternehmens kaum änderte, zeigt laut Malik »die Irrationalität des Marktes«. Doch an den Märkten herrscht kein Wahn. Wer dort Aktien handelt, muss sich ein Urteil darüber bilden, welchen Kursverlauf der Durchschnitt der Aktienhändler für die Zukunft erwartet und dementsprechend kaufen oder verkaufen. Das ist eine halsbrecherische Kalkulation. Ihre Ergebnisse mögen irrsinnig sein, aber nicht irrational.

An der Börse herrscht eine andere Rationalität als jene, die ihre Kritiker einfordern, wenn sie ihr Irrationalität bescheinigen. Diese könnten sie schon in der Realwirtschaft entdecken. Wie will man etwa erklären, dass Lebensmittel vernichtet werden, während Millionen Menschen Mangel haben? Rationalität misst sich am vorgegebenen Ziel: Will ich die Welt ernähren, ist es irrational, Lebensmittel zu vernichten. Will ich Profit erzielen, so ist es durchaus vernünftig, alles, was diesem Ziel nicht dient, zu zerstören oder gar nicht erst zu produzieren.

»Börsenwerte sind heiße Luft«

»Aktien spiegeln den Wert eines Unternehmens wider«, erklärt die Zeitung »Merkur«. Angesichts der Kurskapriolen von Gamestop kommen daran aber zunächst nachvollziehbare Zweifel auf: Aktienkurse spiegelten eben nicht mehr die wirklichen Werte der Unternehmen. Und was soll dieser »wirkliche« Wert eigentlich sein? Der Orientierungspunkt des Aktienhandels ist der erwartete Gewinn einer Gesellschaft und der aus diesem Grund erwartete Kursverlauf der Aktie. Aber wie »wirklich« können solche Erwartungen sein?

Dass der Wert eines kapitalistischen Unternehmens in der Zukunft liegt, also an seinem erwarteten Gewinn festgemacht wird, ist übrigens auch in der Realwirtschaft so. Eine Fabrik, die eine Million an Profit verspricht, ist doppelt so viel wert wie eine, bei der es nur 500 000 sind. Steigt die Gewinnaussicht auf fünf Millionen, verfünffacht sich ihr Wert. Fällt sie auf Null, wird die Fabrik quasi wertlos. Auch bei der stabilsten Produktionsanlage aus Beton und Stahl ist »wirklicher Wert« im Kapitalismus nichts Festes und Gegebenes. Er steht und fällt vielmehr mit der Eignung der Anlage, als Mittel der Geldvermehrung zu dienen.

»Die Großen werden gerettet«

Als im Zuge der Gamestop-Spekulationen einige Hedgefonds in Bedrängnis gerieten, wurde der Handel mit der Aktie rasch eingeschränkt. Das führte zur Klage, die Großen könnten einmal mehr ihre »Unternehmensprivilegien« - so Malik - nutzen, um sich nämlich zu retten. Was die großen Spieler am Markt tatsächlich rettet, sind aber nicht nur ihre »richtigen Verbindungen«. Ein offenes Ohr hat die Politik für ihre Nöte, weil Pleiten bedeutsamer Teilnehmer den Markt destabilisieren können - bis hin zur Krise, wie die Pleite des Hedgefonds LTCM im Jahr 1998 deutlich zeigte. Gefahr droht insbesondere in einer Situation wie der derzeit gegebenen. So warnt die Deutsche Bank bereits vor »euphorischen Übertreibungen« wie in den 1920er Jahren, als »die Börsen zunehmend spekulative Privatanleger anlockten« - eben ganz so wie jüngst jene Gamestop-Kleinanleger.

Aus diesem Grund werden die Großen gerettet, während die Kleinen selbst sehen müssen, wo sie bleiben. Als sich vergangenes Jahr ein 20-jähriger Kunde des Billig-Brokers Robinhood das Leben nahm, weil er glaubte, soeben einen Spekulationsverlust von 730 000 Dollar eingefahren zu haben, war die Finanzwelt vielleicht moralisch erschüttert. Das System aber wird durch so etwas überhaupt nicht berührt.

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