Ich habe mein eigenes Spital zu Hause

Be- oder enthindert? Jasmina Urošević ist Mutter eines Kindes, das auf ihre Pflege angewiesen ist. In einem Verein vernetzt sich die Wienerin mit anderen Angehörigen

  • Michael Bonvalot
  • Lesedauer: 6 Min.

Persönliche Interviews unter den Bedingungen von Covid-19 sind eine enorme journalistische Herausforderung. Dieses Interview mit Jasmina Urošević habe ich in der Halle des Wiener Westbahnhofs geführt, umgeben von Reisenden, Wartenden und wohnungslosen Menschen. Im Freien wäre es zu kalt gewesen, ein geschlossener Raum wäre aus Gesundheitsgründen zu unsicher. Daneben sind in Österreich derzeit ohnehin alle Lokale geschlossen. Doch gerade bei Interviews, die in die Tiefe gehen, kann kein Telefon das persönliche Gespräch ersetzen. Urošević ist Aktivistin der Plattform »Enthindert« und Mutter eines Kindes mit einer schweren Behinderung.

Jasmina Urošević, wie geht es Ihnen?

Müde und erschöpft, wie jeden Tag. Pflegende Angehörige zu sein wird nicht als Arbeit anerkannt. Aber das ist ein extrem harter Vollzeit-Job. Meine Tochter Sanja hat Pflegestufe sieben, das ist in Österreich die höchste Pflegestufe. Das bedeutet, dass keine Bewegung der oberen oder unteren Extremitäten möglich ist. Sie hat keine Kopfhaltung, sie ist komplett bewegungsunfähig und sie kann nichts alleine machen. Sie kann nicht essen, nicht trinken und nicht auf die Toilette gehen.

Können Sie und Sanja dann überhaupt miteinander kommunizieren?

Sanja ist ein Kind, das nicht sprechen kann. Sie ist als gesundes Kind auf die Welt gekommen und wurde im Alter von sechs Monaten krank. Sie hat damals mehrere Schlaganfälle bekommen. Heute ist sie 24 Jahre alt, aber weiter auf dem Stand eines Babys mit sechs oder sieben Monaten. Sie ist dort geblieben, wo sie war. Ich habe mit ihr eine Sprache entwickelt und lese von ihren Augen ab. Ich verstehe, wenn sie Schmerzen hat, wenn sie Hunger hat, wenn sie Durst hat.

Eine solche Betreuung erfordert wahrscheinlich auch umfangreiche medizinische Kenntnisse?

Das stimmt. Ich wollte früher selbst Medizin studieren, ich hatte ganz andere Ziele im Leben. Ich habe mich dann aber für die Betreuung meiner Tochter entschieden. Sanja wird aktuell per Sonde ernährt. Davor habe ich sie bei jedem Essen beim Schlucken unterstützt. Doch nach einer schweren Lungenentzündung, wo sie immer mehr abgenommen hat, ging es nicht mehr. Sie wird auch beatmet. Ich muss Geräte bedienen, ich habe eigentlich meine eigene Intensivstation zu Hause.

Was bedeutet das für Sie?

Die psychische und physische Belastung für die pflegenden Angehörigen ist enorm, wir bekommen auch viel zu wenig Hilfe. Es wäre zwar möglich, Sanja in einer Institution pflegen zu lassen. Doch wir wollen unser Kind nicht in einer Institution oder einem Heim pflegen lassen, wir wollen das selbst zu Hause tun können. Ich glaube, dass Liebe eine wichtige Medizin für ein Kind ist.

Was macht ein solcher Einschnitt mit der Familie?

Vom Vater von Sanja und ihrer Schwester Sara habe ich mich scheiden lassen, es war einfach zu viel für uns beide. Doch es ist nicht so, dass wir uns nicht mögen. Er ist immer da und unterstützt mich. Aber wir konnten einfach nicht mehr zusammen. Schwierig ist es natürlich auch für Sara, meine jüngere Tochter. Sie ist 14 und natürlich möchte und muss ich auch für sie da sein.

Ist es schwieriger oder einfacher geworden, seitdem Sanja älter ist?

Wenn das Kind kleiner ist, ist es noch etwas handlicher, und es gibt Organisationen, die eventuell helfen können. Aber ab 18 gilt das Kind als erwachsener Mensch, wo alles viel schwieriger wird. Die Organisationen, die uns helfen, sind selbst alle spendenbasiert - und das in einem der reichsten Länder der Welt. Gleichzeitig werden in mehreren Bundesländern die Angehörigen dazu gezwungen, für die Pflege zu bezahlen. In Oberösterreich etwa, wo ÖVP und FPÖ regieren, werden sogar die Großeltern herangezogen und müssen bezahlen.

Sie engagieren sich in der Plattform »Enthindert«. Worum geht es da?

Wir sind eine Selbsthilfeorganisation für pflegende Angehörige, die Gruppe gibt es jetzt seit drei Jahren. Begonnen haben wir mit einer Facebook-Gruppe zur Vernetzung. Heute sind rund 250 Personen in unserer Gruppe, da sind mittlerweile Menschen aus allen Bundesländern dabei. Aktuell können wir uns wegen der Pandemie natürlich nur online treffen - gleichzeitig hat das auch einen Vorteil: Früher hatten wir Treffen nur in Wien, jetzt treffen wir uns bundesweit.

Was wollen Sie erreichen?

Ich muss jeden Tag 24 Stunden bereitstehen, dennoch wird meine Pflegetätigkeit nicht als Arbeit anerkannt. Und so geht es sehr vielen von uns. Es gibt in Österreich fast eine Million pflegende Angehörige, das sind rund zehn Prozent der Bevölkerung. Gleichzeitig betrifft Pflege uns alle. Wir werden alle einmal alt. Dazu haben rund 18 Prozent der Bevölkerung irgendeine Form der Behinderung. Es gibt auch viele unsichtbare Behinderungen, die nicht sofort auffallen, etwa kleine körperliche Behinderungen oder psychische Behinderungen. Wir wollen also, dass all diese Menschen und ihre pflegenden Angehörigen anerkannt werden.

Wenn die Pflege nicht als Arbeit anerkannt wird, wovon leben Sie dann?

Ich bekomme Arbeitslosengeld und muss dann immer wieder mit dem Arbeitsamt streiten, wenn sie mich zwangsweise in irgendwelche Jobs vermitteln wollen. Wenn ich mich nicht auf diese Arbeitsplätze bewerbe, dann drohen sie, mir das Geld zu streichen. So geht es vielen von uns. Dabei ist die Pflege selbst auch wahnsinnig teuer. Beispielsweise sind für die Einstufung zum Pflegegeld Gutachten notwendig, die sind extrem wichtig. Ich habe aber keine Villa und kann keine privaten Gutachter zahlen. Ich muss monatlich 1000 Euro für Physiotherapie bezahlen, 1300 Euro für Logopädie, dazu brauche ich einen Wundmanager und habe mittlerweile ein funktionierendes Spital zu Hause.

Ich lebe teilweise vom Pflegegeld, das sind gegenwärtig 1650 Euro im Monat. Dann hilft auch der Vater. Aber das reicht vorne und hinten nicht. In vielen Bundesländern gilt das Pflegegeld zudem noch als Einkommen - damit verlieren die Betroffenen automatisch die Mindestsicherung (Anm.: vergleichbar Hartz IV).

Gibt es auch andere Modelle?

Ein neues Modell gibt es im SPÖ-regierten Bundesland Burgenland, dort werden die pflegenden Angehörigen angestellt. Das Modell wird zwar öffentlich gelobt, aber niemand hat uns Betroffene gefragt. Da dürfen die Kinder etwa nicht in eine Behindertenwerkstatt gehen. Sie müssen also die ganze Zeit zu Hause sein - ich darf aber gewisse pflegerische Maßnahmen rechtlich gar nicht durchführen. Und zusätzlich fällt auch noch die Mindestsicherung weg. Dieses SPÖ-Modell ist also eine Katastrophe und real eine enorme Kürzung für die Betroffenen.

Haben Sie das Gefühl, dass sich etwas zum Positiven ändert?

Aktuell müssen wir eher gegen Kürzungen kämpfen. Vor den Wahlen werden wir immer um Unterstützung und Fotos gefragt. Nach der Wahl werden wir vergessen. Wir mussten bereits vor zwei Jahren um die erhöhte Familienbeihilfe für Kinder mit Behinderungen kämpfen. Menschen mit Behinderung dürfen diese Familienbeihilfe auch ins Erwachsenenalter mitnehmen, ÖVP und FPÖ wollten das streichen. Das wäre eine Katastrophe gewesen, das haben wir dann mit breitem Druck verhindern können. Und jetzt hören wir, dass möglicherweise nächstes Jahr beim Pflegegeld gekürzt werden soll. Es ist ja auch keine Frage, ob genug Geld da wäre. Das ist vorhanden. Es ist eine politische Frage. Es ist eine Frage der Verteilung.

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