- Kultur
- 68er-Depression
Die Lieder nach den Morden
Triumph des Rückzugs: Vor 50 Jahren erschien das Erfolgsalbum »Tapestry« von Carole King
Bonjour Tristesse! Wir schreiben das Jahr 1971. Die Hoffnungsträger der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung sind längst alle tot. Malcolm X: ermordet 1965. Martin Luther King: ermordet 1968. Bobby Kennedy: ermordet 1968.
Die 70er fangen an, wie die 60er geendet haben. In Vietnam wird unvermindert gebombt. Und an der Heimatfront geht es auch nicht friedlicher zu. An der Kent State University werden brave Demonstranten von der Nationalgarde niedergeschossen; vier Studenten sterben im Kugelhagel. Die Flower Power ist verwelkt, die Aufbruchstimmung der Depression gewichen. Der Blick geht nicht mehr nach vorn, in eine glorreiche Zukunft, sondern zurück in die Vergangenheit, als man an diese Zukunft noch geglaubt hat. Trauer ist an die Stelle von Hoffnung getreten.
Dieses Gefühl des Verlusts fängt das Album »Tapestry« (Wandteppich) von Carole King bereits auf dem Cover ein. Das viel zu dunkle, nicht besonders bunte Farbfoto zeigt eine nachdenkliche, in sich gekehrte Endzwanzigerin, der jeglicher Überschwang abhandengekommen scheint. Diese Frau – soviel steht fest – wird auf keine Demonstration mehr gehen. Lieber wird sie sich einen Tee aufbrühen, die Räucherstäbchen anzünden und ein wenig mit ihrer Katze schmusen, die auch auf der Plattenhülle abgebildet ist. Kuscheln statt Kämpfen.
Der erste Song, »I feel the earth move«, versucht diesem Eindruck noch entgegenzusteuern, indem er rhythmisch treibend den Geist der 60er heraufbeschwört. Doch schon beim zweiten Lied ist die Luft raus. Die Erde hat aufgehört zu beben. Stillstand herrscht, Wehmut regiert. Carole King zieht eine bittere Bilanz: »You’re so far away«, »It’s too late«, »Out in the cold«. Trost spendet nur die Gewissheit: »You’ve got a friend«, wenigstens das! Statt Revolution der Rückzug in die eigenen vier Wände: »Home again« – willkommen in der heimischen Idylle!
Das Publikum – jene jungen Menschen, die an eine andere, bessere Welt geglaubt hatten – erkannte sich in diesen meist ruhigen, zurückhaltend instrumentierten Liedern wieder. Das melancholische »Tapestry« wurde zum kollektiven Trostpflaster einer Generation. Und weil es von ihnen, den Babyboomern, viele gab, sehr viele, ging »Tapestry« millionenfach über die Ladentheke.
Auch bei den Grammy-Verleihungen für das Jahr 1971 räumte Carole King ab. Als erste Frau überhaupt gewann sie in den Kategorien »Album des Jahres« und »Song des Jahres «(mit »You’ve got a friend«). Zudem wurde sie für die »Single des Jahres« (»It‘s too late«) und den besten weiblichen Gesangsbeitrag ausgezeichnet. Carole King, die in den 60er Jahren Hits für andere geschrieben hatte, unter anderem »(You make me feel like a) natural woman« für Aretha Franklin, stand plötzlich selbst im Rampenlicht. Und sollte dort lange verweilen. Im Laufe der nächsten Jahre entwickelte sich »Tapestry« zum meistverkauften Album aller Zeiten, dicht gefolgt von »Jesus Christ Superstar«, dem Musical für bibelberauschte Hippies.
Bis eine Band namens Fleetwood Mac das Kokain entdeckte. Befeuert von der kalten Droge breiteten die auch privat miteinander verstrickten Bandmitglieder 1977 auf »Rumours« ihr Beziehungs- und Gefühlschaos aus. In diesen zwischenmenschlichen Abgründen von Lüge und Verrat versank die Idylle von »Tapestry«. Womit auch der Letzte begriffen hatte, dass das Jahrzehnt von Glaube, Liebe, Hoffnung endgültig vorbei war.
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