»Auf gar keinen Fall jetzt mit Zeugnissen bestrafen«

Silvia-Iris Beutel über Leistungsbewertung im Homeschooling

Ist das Schuljahr 2020/21 für Schülerinnen und Schüler ein verschenktes Jahr?

Nein, das dürfte es in gar keinem Fall sein. Zum einen haben wir ja Präsenzzeiten gehabt, die sind im Dezember unterbrochen worden. Was aber deutlich wurde ist, dass man am Verständnis von Homeschooling arbeiten muss. Viele Schulen, die ich kenne, haben trotz Lockdown eine enge Betreuung leisten können.

Im Interview

Silvia-Iris Beutel ist Professorin für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik mit dem Schwerpunkt Lehr-/ Lernprozesse und empirische Unterrichtsforschung an der Technischen Universität Dortmund. Außerdem ist sie pädagogische Expertin in der Vorjury des Deutschen Schulpreises und Mitglied des Programmteams der Deutschen Schulakademie.

Lisa Ecke sprach mit ihr darüber, ob Schülerinnen und Schüler trotz Homeoffice wie immer benotet werden sollten, welche Probleme es beim Fernunterricht auch noch während der zweiten bundesweiten Schulschließung gibt und ob das Schuljahr überhaupt etwas gebracht hat.

Foto: Deutsche Schulakademie

In den Schulen läuft also trotz Pandemie alles gut?

Das wiederum wäre übertrieben - eine Schwierigkeit beispielsweise ist aktuell immer noch die digitale Versorgung für alle. Eine große Sorge ist natürlich auch, ob überhaupt alle digital gut unterstützt werden können. Es gibt viele kreative Lösungen, die aber immer voraussetzen, dass man trotz geschlossener Schulen täglich und nah mit Schülerinnen und Schülern kommunizieren kann, etwa Aufgaben bespricht; aber auch, dass es digitale Räume für den Austausch der Lernenden untereinander gibt. Homeschooling darf nicht zur völligen Isolation führen oder dazu, dass Lehrerinnen und Lehrer nur einmal in der Woche Kontakt zu den Schülern haben.

Das Ifo-Institut kam im August aber genau zu diesem Ergebnis. Während der ersten Schulschließung hatte die Mehrheit kaum Kontakt zu den Lehrkräften. Eine andere Befragung im Dezember, vor der zweiten Schulschließung, hat ergeben, dass 40 Prozent der Schulen immer noch keine Strategie zur Kontaktaufrechterhaltung beim Homeschooling hatten. Zudem hat nicht einmal jede vierte Schule ein Konzept entwickelt, lernschwache Schülerinnen zu unterstützen. Ist es da noch fair, Noten zu vergeben?

Die Notengebung ist sowieso ein heißes Eisen. Ob Noten überhaupt berechtigt und objektiv sind, die Frage begleitet uns seit Jahrzehnten. Die Forschung ist da sehr kritisch in der Einschätzung, was Noten überhaupt leisten können. Ich hätte es auch für angemessen gehalten, im letzten Halbjahr eine ganz andere Form von Zeugnis zu vergeben.

Was halten Sie da für sinnvoll?

Ein Lern- und Entwicklungszeugnis, das die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler abbildet. Das sind auch Optionen, die durchaus in der Wissenschaft diskutiert werden. In Deutschland sind wir sowieso noch nicht ganz auf dem Stand der Dinge, was die Zeugnisse angeht. Noten bilden keine Bildungsstandards und Kompetenzen ab, sondern sind nicht transparente Zahlen.

Wäre die Coronakrise nicht ein idealer Zeitpunkt, um grundsätzlich die Art der Schulzeugnisse zu ändern?

Ja, die Krise könnte jetzt eigentlich einen Impuls dafür geben, über eine andere Praxis nachzudenken. Gleichwohl weiß man um die tiefe Gewöhnung an die Noten, sie sind eine vergleichbare Größe, besonders beim Abiturzeugnis. Aber in allen anderen Jahrgangsstufen wären andere, lernförderlichere Zeugnisse sehr viel hilfreicher. Sowohl für das Lernen als auch für das Feedback an die Schülerinnen und Schüler. Damit man mit ihnen gemeinsam ihre Zukunft planen kann, und nicht über sie hinweg.

Angeregt durch die Schulschließung gab es verschiedene Vorschläge, wie die Notenvergabe anders gestaltet werden könnte. In der öffentlichen Debatte war etwa von einem Nachteilsausgleich auf den Notendurchschnitt die Rede oder sogar davon, dass das Schuljahr gar nicht benotet werden sollte. Was halten Sie von diesen Ideen?

Naja, wie gesagt, Präsenzunterricht hat ja durchaus stattgefunden. Außerdem kann man nicht unbedingt nachvollziehen, warum es vor der zweiten Phase des Homeschoolings von den Schulen keine weitreichendere Vorbereitung gegeben hat, um die Lernenden besser zu erreichen, zu begleiten und auch, um eine Leistung einzufordern. Wie man die dann abbildet, ist eine andere Frage. Wenn Kinder teils keine digitalen Endgeräte haben, dann muss man überlegen, was man über andere Kommunikationswege machen kann. Aber wenn man jetzt sagt: Alles, was ihr im letzten Jahr gemacht habt, ist nicht zeugnis- oder notenrelevant, wäre das nicht hilfreich und würde neue Formen der Ungerechtigkeit schaffen.

Aber wie sonst soll damit umgegangen werden, dass benachteiligte Schülerinnen und Schüler jetzt noch mehr ausgeschlossen sind?

Ich denke, man muss das eher umgekehrt betrachten. Schulen müssen mehr darin begleitet werden, Lernverständnis und Leistungsbeurteilung weiter zu entwickeln. Das zeigt diese Krise noch mal ganz besonders. Wir wissen ja auch nicht, wie es in diesem Jahr noch weitergehen kann.

Ist es jetzt nicht zu spät dafür, die Schulen bei der Gestaltung des Fernunterrichts zu unterstützen und weiter Noten zu vergeben? Es geht ja nicht nur um fehlende Endgeräte, sondern auch darum, dass manche Schüler nebenbei auf ihre kleinen Geschwister aufpassen müssen oder kein eigenes Zimmer haben, um in Ruhe am Fernunterricht teilzunehmen.

Ja, also die Frage von Bildungsgerechtigkeit wird aktuell noch mal in besonderer Deutlichkeit aufgeworfen. Man könnte individuell danach schauen, welche Möglichkeiten ein Schulkind überhaupt hat, um Leistung zu erbringen. Ich teile Ihre Sorge, ob es in dieser Frage jetzt nicht schon zu spät ist. Wir hätten eigentlich spätestens nach dem ersten Lockdown überlegen müssen, was wir machen, wenn wir wieder in so einer Lage sind. Überlegen, wie wir dann die häuslichen und sozialen Lernbedingungen der Schülerinnen und Schüler besser in den Blick nehmen und vielleicht auch ganz andere Leistungen von ihnen erwarten können, ja - wie wir Lernen neu gestalten könnten.

Aktuell kommen dann auch noch besondere psychische Belastungen dazu, etwa durch den Mangel an Kontakt zu Gleichaltrigen.

Mein Kollege Klaus Hurrelmann hat eine Studie vorgelegt, die die Belastungsfaktoren von Kindern und Jugendlichen deutlich aufzeigt. Dass muss man wirklich mit größter Sorge aufnehmen. Auf gar keinen Fall darf man jetzt die Kinder und Jugendlichen mit Zeugnissen oder gar mit Noten für die entstandenen schwierigen Bedingungen »bestrafen«.

Wäre es dann eine Option, zumindest die Abschlussprüfungen jetzt leichter zu machen?

Dann hätten wir ein erhebliches Problem mit der Vergleichbarkeit, mit der bürokratischen Ordnung, die ja trotzdem weiter wirkt, und würden wahrscheinlich für verständliche Entrüstung sorgen, gar eine bundesweite Klagewelle erzeugen. Aber man kann mit anderen Bereichen variabel umgehen. Zum Beispiel mehr Kreativität bei Prüfungen, die Wahlmöglichkeiten bei Prüfungsthemen vergrößern. Oder mehr Lernzeit geben, Prüfungen nach hinten verschieben. Das sind gut realisierbare Möglichkeiten.

Was meinen Sie mit Kreativität?

Müssen Prüfungen immer klassisch in Form von Tests sein oder gibt es andere Möglichkeiten? Etwa Dialoge einsprechen, Erklärvideos drehen. Die Schule ist teilweise sehr verengt in dem, was sie misst und in Noten abbildet. Wichtig ist jetzt zu überlegen, welche neuen Wege man schnell gehen kann. Aktuell sehe ich aber, dass viele Schulen sehr offen für neue Konzepte sind.

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