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Zwischen schönen Tönen und Aerosolen
Durch Corona sind viele Chöre in Deutschland gefährdet. Einige aber haben Wege gefunden, auch in der Pandemie zu singen
Am Donnerstag abends halb neun proben in Langenbernsdorf die Tenöre. Im Gesangverein des westsächsischen Dorfes wird derzeit in Stimmgruppen geübt. Auf dem Plan stehen Lieder wie die »Launige Forelle« oder das Stück »Conquest of Paradise« des Komponisten Vangelis, mit dem der Boxer Henry Maske einst in den Ring stieg. Stefan Hoffmann, der Vorsitzende des Vereins und einer der Tenöre, ist voller Vorfreude. »Ich singe ständig und überall vor mich hin«, sagt der Sportlehrer: »Das ist mein Ausgleich.« Noch mehr Spaß macht es ihm in der Gemeinschaft. Die Probe am Donnerstagabend, sagt Hoffmann, sei für ihn deshalb »ein Pflichttermin«.
Sie ist zugleich eine absolute Seltenheit. Die meisten Chöre liegen derzeit in einem Dornröschenschlaf, von dem keiner weiß, wann er endet. Der Grund ist die Pandemie. Corona und Chorgesang - das ist eine eher schlechte Kombination. Die Viren werden unter anderem über Aerosole verbreitet, winzige Partikel, die über Stunden in der Luft schweben. Wissenschaftliche Studien gehen davon aus, dass es beim Singen zu »deutlich höheren Emissionsraten« im Vergleich zum bloßen Atmen durch den Mund oder zum Sprechen kommt - im Mittel rechne man mit einer 30-mal höheren Rate, besagt ein Papier des Freiburger Instituts für Musikermedizin vom Juli 2020. Entsprechend steigt das Risiko für Infektionen. Chorgesang erscheint in Zeiten der Pandemie auf einmal als hochgefährlich. Im Mai 2020 wurden nach einer Probe eines Chores im US-Bundesstaat Washington 53 von 61 Sängern positiv auf Corona getestet, drei mussten ins Krankenhaus, zwei starben. Der Sächsische Chorverband verzeichnete Coronafälle in Dresden und Eilenburg, wenngleich nicht so dramatische.
Für viele Chöre begann daher mit der ersten Corona-Welle vor einem Jahr eine Gesangspause. Die aber ist nicht nur dem Gemeinschaftsgefühl abträglich, sondern auch der musikalischen Qualität, sagt Michael Pauser. Der Musikwissenschaftler leitet seit 2008 den Chor in Langenbernsdorf, wo er offiziell als »Liedermeister« fungiert. »Vor allem Laien bauen stimmlich sehr schnell ab«, sagt er: »Wenn vier oder fünf Wochen nicht geprobt wird, hört man das sehr.« Im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 verteilte er deshalb Hausaufgaben: straffe Übungspläne, dazu CDs, mit denen Soprane und Altistinnen, Tenöre und Bässe ihre jeweiligen Partien proben konnten. In Langenbernsdorf hatte man schließlich ambitionierte Pläne: Im Oktober sollte die 9. Symphonie von Ludwig van Beethoven aufgeführt werden, mit Orchester und Solisten - ein Ohrenschmaus.
Im Sommer sah es dann so aus, als sei auch Chorgesang wieder möglich. Zwar blieb die Vorsicht groß; Proben fanden im Freien statt oder mit etlichen Metern Abstand zwischen Sängern, was mit gutem Chorgesang eigentlich schwer vereinbar ist. Dieser lebt davon, dass Sänger auch feinste Nuancen des Gesangs von Nebenfrau und -mann wahrnehmen und quasi zu einem Klangkörper verschmelzen. Proben und Auftritte mit zwei Metern Abstand, bei denen man sich selbst ungewohnt deutlich, die Mitsänger aber fast gar nicht hörte, nahmen viele eher als eine Art kollektiven Einzelgesang wahr. Aber immerhin: Es wurde gesungen - bis Herbst. Als die Fallzahlen wieder stiegen, war es vorbei mit dem gemeinschaftlichen Singen. In Langenbernsdorf kam die Absage für Beethovens »Neunte« zwei Tage vor dem Auftritt. »Ein Schock«, sagt Tenor Hoffmann. Und Pauser fügt hinzu: »Wir waren am Tiefpunkt.« Ähnliches erlebten praktisch alle Chöre.
»Sang- und Klanglosigkeit« herrsche im Land. Dies attestiert der »Bundesmusikverband Chor und Orchester« und erinnert daran, dass die deutsche Tradition des Chorgesangs in Laienchören weltweit ihresgleichen sucht; seit 2014 ist sie als immaterielles Kulturerbe der Unesco anerkannt. Nun aber sei sie bedroht; aus Sang- und Klanglosigkeit könnte bald eine »nachhaltige Stille« werden. Bei Ensembles mit überwiegend älteren Mitgliedern steht zu befürchten, dass sie die Proben nach Ende der Pandemie nicht mehr aufnehmen. Weil an Schulen kein Musikunterricht stattfindet, stehen auch die Chancen schlecht, Nachwuchs zu finden. Das böse Wort vom »Chorsterben« geht um.
Im Gesangverein zu Langenbernsdorf jedoch ist man nicht gewillt, klein beizugeben. Der Chor feiert in diesem Jahr sein 150-jähriges Jubiläum; er habe schon »viele Schwierigkeiten überstanden und sich an neue Situationen angepasst«, sagt Dirigent Pauser. Die größte Zäsur hat er selbst miterlebt. Als er anfing, übernahm der damals 20-jährige Pauser einen Männerchor mit viel Tradition, aber angestaubtem Repertoire und nur 30 Sängern, deren jüngster 50 war. Mit der Verpflichtung des jungen Dirigenten hoffte der Verein auf Veränderung. Neben Liedern von Schubert werden inzwischen auch Hits von ABBA und sogar Rammstein gesungen. Seit 2013 gibt es das Projekt »Ein Dorf singt«, für das ein gemischter Chor ein Programm erarbeitet, das mit Orchester aufgeführt wird. 2019 kam dann der »größte Umbruch in der Geschichte des Vereins«, wie es in der Chronik auf der Homepage heißt: Aus dem Männer- wurde ein gemischter Chor. In diesem singen nun gut 60 Sänger und Sängerinnen, viele von ihnen neue Mitglieder. Die Jüngste ist 16, der älteste 82.
Diesen Schwung des Aufbruchs wollte man sich vom Virus nicht kaputtmachen lassen. Zugleich war nach der Erfahrung des Frühjahrs klar, dass es wenig hilft, wenn die Chormitglieder nur mit Hausaufgaben ins »sängerische Homeoffice« geschickt werden. Manche nahmen das Pensum sehr ernst, anderen fiel es schwer, sich zu motivieren. »Allein zu üben«, sagt Stefan Hoffmann, »ist manchem zu öde.« Also lädt der Dirigent nun zu digitalen Proben ein: Jede Stimmgruppe trifft sich alle 14 Tage per Videokonferenz.
Das klingt indes einfacher, als es ist. Programme wie »Zoom« mögen Arbeitsbesprechungen oder Familientreffen ermöglichen; gemeinsamen Gesang erlauben sie nicht. Der Grund: Die Bild- und Tonsignale sind wenige, aber deutlich wahrnehmbare Sekundenbruchteile unterwegs und kommen zudem bei den Teilnehmern auch nicht gleichzeitig an. Die Verzögerung ist nicht groß, für Musiker aber entscheidend: Präzise Einsätze und synchroner Gesang sind unmöglich. Das Problem, sagt Michael Pauser, »ist technisch bisher nicht zu überwinden«. Also lautet die Anweisung an alle außer den Dirigenten: Mikrofone aus! Die Sänger hören sich untereinander ebenso wenig wie der Chorleiter sie akustisch wahrnehmen kann.
Was aber soll so eine Probe bringen? Sehr viel, sagt Pauser. Erstens: Die Sänger sehen einander. »Psychologisch ist das sehr wichtig«, sagt er: »Man übt nicht allein. Das motiviert.« Neben dem Gemeinschaftsgefühl sei wichtig, dass der Chor einen regelmäßigen Probenrhythmus aufrechterhält. Alle arbeiten dabei an den gleichen Stücken; die Stimmen bleiben im Training, »auch wenn man zu Hause nicht mit voller Kraft singt«, wie Hoffmann sagt. Und selbst musikalische Aspekte fallen nicht völlig unter den Tisch. Er kenne den Chor seit Jahren, sagt Pauser, und müsse daher nicht unbedingt hören, ob Artikulation oder Atmung bei den Sängern stimmen: »Es reicht, wenn ich die Oberkörper sehe.«
In Langenbernsdorf hat man sich mit dem Format angefreundet - und belässt es nicht mehr nur bei Proben. Mit drei Liedern ist der Gesangverein, der dabei als »Corona-Chor« firmiert, auf einer Videoplattform im Internet zu sehen, als Signal an das Publikum, das es ihn weiterhin gibt. Bis die drei Stücke - ein Heimat-, ein Weihnachts- und ein ukrainisches Volkslied - veröffentlichungsreif waren, seien einige Stunden Arbeit nötig gewesen, sagt Pauser: »Jede einzelne Stimme ist nachbearbeitet.« Generell habe zumindest er als Dirigent für die Onlineproben technisch gehörig aufgerüstet: HD-Kamera, Mikrofon, Mixer, Licht. Auch manche Sänger hätten in Technik investiert. Es geht aber auch mit dem Handy - und das offenbar nicht schlecht. Die Mitglieder hätten sich mit dem neuen Format angefreundet, unabhängig vom Alter, sagt Vereinschef Hoffmann. Bei den digitalen Proben gebe es Teilnahmequoten von bis zu 95 Prozent: »Das hatten wir früher nie.«
Der Chor in Langenbernsdorf ist nicht der einzige, der dem Virus trotzt. So habe es auch beim Jazzchor Dresden seit Beginn der Pandemie »nie eine wirkliche Pause im Probenbetrieb« gegeben, sagt Michael Blessing. Er leitet das im Jahr 2012 gegründete A-cappella-Ensemble, in dem knapp 50 Sängerinnen und Sänger ein breites Repertoire von Jazz über Pop bis Fusion darbieten. Das Durchschnittsalter liegt bei nur 30 Jahren. Auch in diesem Chor singen ausschließlich Laien, »viele Lehrerinnen, viele Informatiker«, sagt Blessing. Das Niveau ist trotzdem hoch, wie Auftritte zum Dresdner Palaissommer belegen, ein eigenes Chorfestival und 2018 sogar einmal ein Gastspiel in der TV-Show von Jan Böhmermann. Das freilich sehen die Sängerinnen und Sänger nur als erfreuliche Zugabe: »Vor allem«, sagt Blessing, »eint uns die Freude am gemeinsamen Musizieren.«
Die wollte man sich durch Corona nicht nehmen lassen. Als der erste Lockdown verhängt wurde, sei man nach einem Krisentreffen »sofort auf Proben im Videoformat umgestiegen«, sagt der Leiter. Die Schwierigkeiten sind dieselben wie in Langenbernsdorf. Damit müsse man sich arrangieren: »Wer mit den gleichen Ansprüchen an eine Probe über ›Zoom‹ herangeht wie an eine Präsenzprobe, der kann nur enttäuscht sein«, sagt Blessing. Man habe aber »keine Lust gehabt, sich gar nicht mehr zu treffen«. Gleichzeitig sieht er in Videoproben mehr als eine Krücke, um die Zeit bis nach Corona zu überbrücken. Vielmehr könnten sie genutzt werden, um sich Themen zu widmen, für die im bisherigen Probenregime kaum Zeit war: der Festigung von Stücken und Texten, der Schulung von Rhythmusgefühl und Improvisationstechnik, Stimmbildung, Musiktheorie: »Es gibt viele Baustellen, die wir jetzt angehen können.«
Blessing ist auch klar, dass sich die Sänger in Videoproben nicht beliebig lange bei Laune halten lassen. »Man sollte die Formate regelmäßig variieren«, sagt er. Derzeit ähneln die Digitalproben deshalb Workshops, bei denen sich die Sänger nach einem gemeinsamen Einsingen in verschiedenen virtuellen Räumen treffen, um je nach Lust und Tagesform an verschiedenen Themen und Techniken zu arbeiten. Eine weitere Möglichkeit bieten sogenannte Digital-Audio-Workstations, die es Sängern erlauben, von mehreren Orten aus gemeinsam an Projekten zu arbeiten: einzelne Tonspuren einzusingen, diese zu mischen und nachzubearbeiten. Auf diese Weise entstehe »fast so etwas wie Chorklang«, sagt Blessing. So ließen sich neue Stücke einstudieren, bei denen, wenn irgendwann wieder Liveproben möglich sind, nur noch der Feinschliff erfolgen muss. Die Programme hätten »einen unglaublichen Motivationsschub« bewirkt, sagt Blessing - und würden in dem Dresdner Chor »definitiv auch über den Lockdown hinaus genutzt«.
Für die Chorlandschaft nicht nur in Sachsen können Beispiele wie in Langenbernsdorf oder Dresden zur Ermutigung dienen. Sie zeigen, »dass auch in dieser schwierigen Zeit etwas geht«, sagt Luise Neuhaus-Wartenberg, Präsidentin des Sächsischen Chorverbands. Sie weiß einerseits, dass viele Chöre auf den Sommer hoffen, auf Lockerungen und die Möglichkeit, zumindest im Freien wieder singen zu können. Bei der Erarbeitung entsprechender Hygienekonzepte werde man sie nach Kräften unterstützen.
Zugleich setzt auch der Verband auf digitale Formate. »Darin liegt eine große Chance«, sagt Neuhaus-Wartenberg. Ein Strategiepapier wird derzeit beraten; auch um Fördermittel will man sich bemühen. Gespeist wird das aus der Einsicht, dass womöglich noch einige Zeit vergeht, bis Proben wieder im gewohnten Format stattfinden können: in geschlossenen Räumen und mit Sängern, die im Interesse eines guten Klangs auf Tuchfühlung stehen. Michael Pauser macht sich da wenig Illusionen. Das Virus ist in der Welt, die Impfungen brauchen Zeit. »Dass wir wieder singen wie vor der Pandemie«, sagt er, »wird nicht vor Sommer 2022 der Fall sein.«
Auch diese Zeit lässt sich überbrücken. Zwar wird das nicht allen Chören gelingen; das viel beschworene »Chorsterben« sei wahrscheinlich, meint Pauser. Viele Ensembles seien, ähnlich wie sein Gesangverein vor dem »Umbruch« 2019, überaltert und personell ausgedünnt. Die Krise beschleunige die Entwicklung und werde in manchem Fall den letzten Anstoß zur Auflösung eines Chores geben; die Ursachen aber liegen oft in der Vergangenheit, sagt Pauser und fügt ironisch an: »Man kann dann fragen, ob ein Chor an oder mit Corona gestorben ist.« Zugleich aber ist die Pandemie kein Todesurteil für die Szene. »Wer sich den neuen Möglichkeiten stellt«, sagt Michael Blessing, »der ist weit weniger gefährdet kaputtzugehen.«
Corona wird den Chorgesang verändern; so viel steht fest. Zumindest vorübergehend müsse man Abstand halten, womöglich Masken tragen und Proben häufig durch längere Pausen zum Lüften unterbrechen, sagt Michael Fuchs, Chorsänger und Mediziner am Leipziger »Zentrum für Musikermedizin«, in einem »Crashkurs Chorsingen und Corona« auf der Homepage des Instituts. Das sei eine »tüchtige Herausforderung«. Zugleich jedoch appelliert er, solle man »die Freude am gemeinsamen Singen bei all den Auflagen nicht verlieren«. Der bundesweite Chorverband hat verschiedene Szenarien für Proben in der nächsten Zeit entwickelt. Sie sollten »falls möglich draußen« stattfinden, gern aber auch digital. Das ist nicht das, was Sänger gewöhnt sind. Aber immerhin: Es geht. Noch vor fünf Jahren, sagt Pauser, seien etwa Videokonferenzen in heutiger Form undenkbar gewesen: »Damals hätten wir im Pandemiefall wirklich zumachen können.« Und jetzt? Lädt er für Donnerstag zur Probe.
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