- Politik
- Europäischer Gerichtshofs für Menschenrechte
Ignoranz gegenüber Kundus-Opfern
Der Europäische Gerichtshof konnte bei Klage gegen Deutschland keine Menschenrechtsverstöße feststellen
Gemäß dem am Dienstag verkündeten Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg hat Deutschland bei den Untersuchungen eines möglichen Kriegsverbrechens im afghanischen Kundus nicht gegen die Verpflichtungen der europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen. Im Prozess ging es darum, ob die Ermittlungen effektiv durchgeführt worden sind. Geklagt hatte Abdul Hanan, der in der Bombennacht seine acht und zwölf Jahre alten Söhne verlor. Er klagte auch stellvertretend für die Opferfamilien des am Abwurfort der Bomben gelegenen Dorfes.
Die genaue Zahl der Opfer, die in der Nacht zum 4. September 2009 in einem Flussbett südlich von Kundus in Afghanistan starben, ist umstritten. Geht es nach der Bundesregierung, so gab es 91 Tote und 11 Schwerverletzte. Hilfsorganisationen gehen von über 140 Toten aus. Die Berechnung der Bundesregierung entstand im August 2010, als die Hinterbliebenen jeweils eine Zahlung von 5000 US-Dollar erhielten. Ohne Anerkenntnis einer Rechtspflicht, was im Klartext heißt, dass Deutschland mit der Zahlung kein Eingeständnis einer Schuld tätigen wollte.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Kläger Abdul Hanan sagte zu dem Fall: »Die letzten zwölf Jahre waren eine Tortur für meine Familie und die Familien der anderen Opfer. Wir haben nie eine offizielle Entschuldigung von der deutschen Regierung erhalten. Alles, was wir wollten, ist, dass die Verantwortlichen für den Angriff zur Rechenschaft gezogen werden und dass wir angemessen entschädigt werden.« Er hoffe, die Entscheidung werde dennoch als Weckruf für alle Regierungen und Angehörigen der Streitkräfte verstanden, die Menschenrechte bei militärischen Einsätzen im Ausland zu wahren.
Dem für die schwer verletzten Opfer und für Hinterbliebene enttäuschenden Urteilsspruch wohnt dennoch ein Erfolg inne, wie das European Center for Constitutional and Human Rights ECCHR, das juristisch gegen Kriegsverbrechen vorgeht, in einer Pressemitteilung erklärt. »Der Gerichtshof bekräftigt, dass Staaten, die ihre Truppen für multinationale Militäreinsätze zur Verfügung stellen, verpflichtet sind, Verbrechensvorwürfen gegenüber ihrem Personal nachzugehen.« Das Urteil sei für militärische Einsätze im Ausland daher von großer Bedeutung, denn es ist nun - fast 30 Jahre nach Beginn von Auslandeinsätzen der Bundeswehr - klar, dass Ermittlungen in Kriegsgebieten nach den Standards der europäischen Menschenrechtskommission geführt werden müssen, so das ECCHR. Mehrere Nato-Staaten hatten im Verfahren die Auffassung vertreten, das Gericht sei nicht zuständig.
Das ECCHR weist darauf hin, dass die Untersuchungen des Bombardements eine »organisierte Unverantwortlichkeit« zu Tage gefördert haben. Die Ermittlungen der Nato in Afghanistan seien nicht nach Strafprozessrecht geführt worden. Sowohl Deutschland als auch die Nato verhinderten damit eine umfassende Aufarbeitung des Falles. Rechtsanwalt und ECCHR-Generalsekretär Wolfgang Kaleck, der Hanan vor dem EGMR vertritt, sagte, die Opfer wünschten sich zudem, dass die Bundesregierung Kontakt zu ihnen sucht, um sich zu vergewissern, wie es ihnen zwölf Jahre nach dem Luftangriff gehe. »Dies ist gerade mit Blick auf den Abzug der Soldaten und Soldatinnen aus Afghanistan geboten«, so Kaleck.
»Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte baut auf der Erzählung der Bundeswehr und der Bundesregierung auf, die den Angriff als militärisch angemessen bezeichnet haben«, erklärte die Linke-Bundestagsabgeordnete Christine Buchholz. »Im Kundus-Untersuchungsausschuss wurde festgestellt, dass der den Angriff kommandierende Oberst Georg Klein nicht zwischen Aufständischen und Zivilisten unterschieden und damit Grundregeln des Völkerrechts missachtet hatte.« Zudem habe Klein mehrere Einsatzregeln der Nato ignoriert und auf die vorgeschriebene »show of force« verzichtet, einen Überflug in niedriger Höhe als Warnung für den bevorstehenden Angriff. »Stattdessen ließ Klein ohne Vorwarnung bombardieren«, fasste Buchholz zusammen. »Das Ende der juristischen Aufarbeitung des Bombardements am Kundus-Fluss ist nicht das Ende der politischen Aufarbeitung«, teilte Omid Nouripour, Sprecher für Außenpolitik der Grünen, mit. »Weiterhin verweigert die Bundesregierung eine unabhängige und wissenschaftliche Evaluation des Afghanistan-Einsatzes, bei der auch die Geschehnisse des 3./4. September 2009 einfließen müssen«, so Nouripour. Der Angriff in Kundus habe nicht nur die Bundeswehr und ihre Strukturen verändert, sondern auch die Politik und die Sichtweise der Öffentlichkeit auf Auslandseinsätze. Nouripour mahnte, gerade die SPD, die eine solche Evaluation in der Opposition stets eingefordert hatte, müsse hier liefern, wenn sie nach den Rüstungsexporten nicht auch noch an dieser Baustelle ihre Glaubwürdigkeit verlieren wolle.
»Aus zeitlichen Gründen wird es von Seiten der SPD-Fraktion kein Zitat geben«, heißt es aus der Pressestelle auf »nd«-Anfrage. Die Fraktion waren zeitgleich mit der Linken, Grünen, FDP und CDU/CSU um eine Stellungnahme zum Urteil gebeten worden. »Der gewünschte Teilnehmer hat seine Mailbox leider ausgeschaltet. Sie können daher keine Nachrichten hinterlassen«, hieß es in der CDU-Pressestelle. Zeitdruck auch bei der Pressestelle der FDP, die jedoch auf Nachfrage versicherte, an einer Pressemitteilung zu arbeiten. Im Verteidigungsministerium verwies eine Sprecherin auf das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz, das die Federführung in dem Fall habe. Eine Stellungnahme von dort lag bis Redaktionsschluss nicht vor.
»Für das afghanische Dorf mit Dutzenden von zivilen Opfern ist die Entscheidung aus Straßburg enttäuschend, da die Geheimhaltungspolitik des deutschen Militärs und die faktische Verweigerung von Verfahrensrechten für die Betroffenen nicht gerügt wurden«, machte Anwalt Kaleck die Außenwirkung nach den jahrelangen Verfahren deutlich.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.