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Eine Frage der Verteilung
Eine Patentaussetzung würde nicht rasch für mehr Impfstoff sorgen
Die neue Chefin der Welthandelsorganisation, Ngozi Okonjo-Iweala, will die faire Verteilung von Impfstoffen zu einer Priorität zu Beginn ihrer Amtszeit machen. »Ich glaube, dass die WTO mehr dazu beitragen kann, die Covid-19-Pandemie zu besiegen«, sagt die Nigerianerin. Es gehe darum, ärmeren Ländern den Zugang zu erleichtern.
Das sind neue Töne aus der WTO, die lange auf mehr Freihandel und den Schutz geistigen Eigentums setzte. Doch die Pandemie und der Druck einiger Entwicklungs- und Schwellenländer, die auf Aussetzung des Patentschutzes für Produkte zur Vorbeugung, Eindämmung und Behandlung von Covid-19 drängen, sorgen für Bewegung. Okonjo-Iweala sieht die Aufgabe der WTO darin, zwischen den Interessen von reichen und armen Staaten sowie der Industrie zu vermitteln. Sie regt mehr freiwillige Lizenzabkommen an, um die Produktion in mehr Ländern zu ermöglichen. Zum Teil passiert das schon. Astra-Zeneca etwa lässt seinen Vektorimpfstoff auch in Indien herstellen.
Es ist sinnvoll, bei Medikamenten, Diagnostika, Schutzausrüstung und Beatmungsgeräten durch Eingriffe ins Patentrecht eine künstliche Verknappung zu verhindern. Bei Impfstoffen sieht die Sache anders aus. Hierzulande richtet sich das Augenmerk auf den Hersteller Biontech, dessen mRNA-Impfstoff in der EU als erster zugelassen wurde. Dass es mittels Patentaussetzung rasch mehr gäbe, sehen Experten nicht. Es handelt sich nämlich um eine komplett neue Technologie, und auch bei großen Konzernen in Europa, USA und Indien fehlt es an Know-how. Die Produktion ist ein komplexer sechsstufiger Prozess von der Herstellung der DNA-Schnipsel in Bioreaktoren bis hin zur Verpackung des Vakzins in Spezialglasbehälter, die die Lagerung bei minus 70 Grad aushalten müssen, erläutert der Chemiker Derek Lowe im Fachblatt »Science Translational Medicine«. Auch gebe es »Flaschenhälse« - kaum aufzutreiben seien einige Komponenten wie Lipidnanopartikel, mit denen die mRNA-Abschnitte umhüllt werden. Ferner gibt es extrem hohe Qualitätsansprüche im Herstellungsprozess, denn mRNA-Substanzen gelten als äußerst fragil.
Der Schutz des Menschen – sehr bedingt. Die Forderung nach Freigabe der Patente von Impfstoffen muss sich an den Zielen relativieren, die Gesundheitspolitik real verfolgt
Im Falle des Biontech-Impfstoffes, der für den Einsatz in tropischen Ländern mit schlechter Infrastruktur ohnehin ungeeignet ist, könnten bei Neulingen in diesem Jahr kaum zusätzliche Kapazitäten samt Lieferketten entstehen, zumal Impfstoffe gegen andere Krankheiten nicht vernachlässigt werden dürfen. Knappheit wird danach wohl Geschichte sein: 2021 will allein Biontech zwei Milliarden Dosen herstellen, und auch bei anderen Vakzinen wird in den USA, der EU, Russland, China und Indien auf Hochtouren produziert. Die WHO zählt, Stand 16. Februar, zudem 250 Entwicklungsprojekte weltweit. Experten setzen große Hoffnung auf Impfstoffe der zweiten Generation, die langfristiger wirken, billiger und einfacher zu verteilen sein könnten; etwa saRNA-Impfstoffe, bei denen die köpereignen Zellen in kontinuierlich produzierende Spike-Protein-Fabriken verwandelt werden, oder Impfstoffe, bei denen die Spike-Proteine selbst verabreicht werden. »Wir sitzen auf einer Schatztruhe«, meint Danny Altmann, Immunologe am Imperial College in London.
Ein Aufbau weiterer Biontech-Kapazitäten wäre daher womöglich Verschwendung von Zeit und knappen Ressourcen. Man darf auch nicht vergessen, dass Biontech seinen Impfstoff laufend weiterentwickelt, etwa wegen neuer Mutationen. Eine, übrigens auch teure, Zwangslizenzierung könnte dazu führen, dass veraltete Vakzine produziert werden.
Angesichts der vielen Projekte geht es um etwas anderes: eine bessere Koordinierung. Bei der Weltgesundheitsorganisation sollen eigentlich alle Daten über Forschungsergebnisse und geplante Produktionsmengen zusammenlaufen, was bisher nur sporadisch läuft. Dann aber wäre eine Bewertung möglich, was wo in welcher Menge verteilt werden müsste. Bislang ist man auf den guten Willen der Hersteller angewiesen, die der WHO Impfstoffe für arme Länder bereitstellen, was fast nur Astra-Zeneca macht.
Auch die Festlegung der Preise und die Forschungsförderung müssten zentral laufen. Bisher handeln Staaten für sich Einzelverträge aus. Wer zuvor Fördermittel vergeben und Verhandlungsmacht hat, sichert sich die größten Mengen. Von »Impf-Nationalismus par excellence«, spricht Stephan Exo-Kreischer von der Entwicklungsorganisation One. Dies sei »unverantwortlich und kurzsichtig«, denn es verlängere die Pandemie um Jahre. Christine Jamet von Ärzte ohne Grenzen kritisiert das Horten: »Regierungen, die sich mehr Dosen gesichert haben, als sie für die Impfung ihrer Hochrisikogruppen brauchen, fordern wir dringend auf, ihren Impfstoffvorrat mit anderen Ländern zu teilen.«
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