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Eine notwendige Zumutung

Der zwölfstündige ARD-Podcast »Saal 101« rekonstruiert den NSU-Prozess

Diese Dokumentation ist eine Zumutung: wegen der Länge - insgesamt zwölf Stunden - und vor allem wegen der Grausamkeit, um die es geht. Und dennoch vermitteln der halbe Tag, den man sich dem Geschehen ohne Pause aussetzen könnte, nur einen schwachen Abglanz jenes Mammutverfahrens, mit dem in München eines der schwersten rechtsextremistischen Verbrechen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland aufgeklärt und gesühnt werden sollte. Mehr als fünf Jahre lang - vom Mai 2013 bis zum Juli 2018 - verhandelte der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts München gegen fünf Mitglieder und Helfer der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU), der während einer Mordserie in ganz Deutschland zehn Menschen zum Opfer fielen, neun davon aus migrantischen Familien.

Weil kein offizielles Protokoll vom Verhandlungsgeschehen geführt wurde, übernahmen Journalistinnen und Journalisten die Aufgabe, schriftlich festzuhalten, was im Gerichtssaal gesprochen wurde. Unter ihnen Gerichtsreporter des Bayerischen Rundfunks, die 438 Verhandlungstage lang mitschrieben, den Laptop auf den Knien, denn Tische gibt es nicht in den Zuschauerreihen der Gerichtssäle. Die Beobachter taten dies zunächst, um Informationen für die aktuelle Berichterstattung der diversen ARD-Sender zu liefern. Erst nach und nach wurde ihnen klar, dass sie dabei waren, ein nahezu einzigartiges Zeitdokument zu schaffen.

Bis zum Ende des Prozesses hatten sich etwa 6000 Seiten Protokoll angesammelt, eine schier unüberschaubare Menge an Material. Mit einem riesigen Personal: 5 Angeklagte, 14 Verteidiger, 91 Nebenkläger, mehr als 600 Zeugen, viele Gutachter. Um dem Ganzen eine Struktur zu geben, wurde entschieden, nicht chronologisch dem Prozessverlauf zu folgen, sondern dramaturgisch einzugreifen und inhaltliche Komplexe zusammenzuführen: die Mordserie, die Sprengstoffanschläge, die Täter, die Helfer und Mitläufer, die Verfassungsschützer und Ermittler. So entstand das Dokumentarhörspiel »Saal 101« (Regie: Ulrich Lampen).

Die monströsen Verbrechen des NSU und der Prozess gegen die Mörder und Mördergehilfen sind schon in vielen Formen aufgearbeitet worden: filmkünstlerisch, journalistisch, literarisch, theatralisch. Es gibt Dokumentar- und Spielfilme, Reportagen, Bücher, Theaterstücke. Vor zwei Jahren brachte die Bundeszentrale für politische Bildung die Prozessprotokolle in zwei Bänden heraus. Grundlage dafür waren die Mitschriften eines Berichterstatter-Teams der »Süddeutschen Zeitung«, das ebenso akribisch und nahezu lückenlos wie die ARD-Kollegen festgehalten hat, was sich fünf Jahre lang im hoch gesicherten Münchner Gerichtssaal 101 abspielte. Sie habe sich irgendwann gefühlt wie die Zellennachbarin der Hauptangeklagten Beate Zschäpe, sagte später die Journalistin Annette Ramelsberger.

Die »Süddeutsche Zeitung« dokumentierte den Prozess so, wie er abgelaufen ist - mit allen Abweichungen, Unterbrechungen, Blockadeversuchen. Eine anstrengende, gleichwohl notwendige Lektüre, weil sie anschaulich macht, wie mühsam die rechtsstaatliche Wahrheitssuche ist - und an welche Grenzen sie stößt; zumal dann, wenn es um solche Verbrechen geht. Einen anderen Weg wählte der Bayerische Rundfunk. Freilich, es beginnt mit der Anklage und endet mit dem Urteil, aber indem die Journalisten den Stoff nach Schwerpunkten sortieren, lenken sie den Blick stärker auf die Triggerpunkte. Hinzu kommt die Form: Ein Ensemble namhafter Schauspieler, unter ihnen Bibiana Beglau, Martina Gedeck und Thomas Thieme, spricht die Protokolle - zurückgenommen, zuweilen beinahe emotionslos, mit einer so weit heruntergedimmten Nüchternheit, dass das Zuhören angesichts der unglaublichen Brutalität der NSU-Verbrechen auf physischer und seelischer Ebene manchmal fast schon körperlich schmerzt. Man bekommt so einen, gewiss nur vagen, Eindruck davon, was die Reporterin Annette Ramelsberger meinte, als sie rückblickend sagte, der Prozess sei ein »Hochamt der Zermürbung« gewesen.

Zahlreiche ARD-Hörfunksender haben die Zwölf-Stunden-Dokumentation in zwei Teilen am vergangenen Wochenende gesendet, zum ersten Jahrestag des Anschlags von Hanau - auch dies ein rechtsextremistisches Attentat mit vielen Todesopfern. Wie gesagt: eine Zumutung. Wegen der Kälte der Täter und fast aller Helfer, der Leiden der Opfer und Hinterbliebenen, der Finten der Verteidiger. Wegen in die falsche Richtung laufender Ermittlungen, obwohl es Hinweise auf einen rechtsextremistischen Hintergrund gab. Und wegen der Schwierigkeit, die ganze Wahrheit über teils viele Jahre zurückliegende Mordtaten herauszufinden und damit Gerechtigkeit herzustellen.

Wer die Sendungen verpasst hat, kann sie dosiert nachholen: In der ARD-Audiothek ist »Saal 101« in 24 Teilen zu finden, jeweils eine knappe halbe Stunde lang. Ein Format, das auch für Unterrichtszwecke bestens geeignet ist. Wenn in den Debatten über Rundfunkgebühren und die Qualität des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gelegentlich gefragt wird, wozu er eigentlich gut ist: genau für solche aufklärerische Publizistik wie »Saal 101«.

Die Dokumentation »Saal 101« ist im Internet zum Nachhören und zum Download zu finden unter: www.ardaudiothek.de

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