- Berlin
- Volksentscheid
Enteignung ist die beste Medizin
Unterschriften-Sammelstart für Berliner Sozialisierungs-Volksentscheid.
Die Linke-Bundesvorsitzende Katja Kipping ist da, die Berliner Landesvorsitzende Katina Schubert, auch die im August 2020 zurückgetretene Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher sowie zahlreiche weitere Sozialisten. Der Auftakt zur Sammlung von Unterstützerunterschriften für das Volksbegehren Deutsche Wohnen & Co enteignen am Freitagmittag am Kottbusser Tor in Kreuzberg hat Volksfestcharakter - soweit das eben unter Corona-Bedingungen geht. An die 300 Menschen umringen die kleine Hütte der Mietervernetzung Kotti & Co, die vor bald neun Jahren errichtet worden ist. Die Hütte ist eine Keimzelle des von den Mietern selbst organisierten Protests gegen den Berliner Mietenwahnsinn.
»Es ist mehr als anderthalb Jahre her, seit wir unsere Unterschriften nach dem Ende der ersten Stufe abgegeben hatten«, erinnert Rouzbeh Taheri von der Enteignungsinitiative kurz zuvor bei einer Pressekonferenz an den zähen Prozess bis zum Beginn der zweiten Stufe des Volksbegehrens, das am 26. September parallel zur Bundestags- und Abgeordnetenhauswahl in einen Volksentscheid münden soll. Ziel ist die Sozialisierung des Bestands renditeorientierter Immobilienkonzerne, der 3000 Wohnungen in Berlin übersteigt. Betroffen wären geschätzt an die 250 000 Wohnungen großer Konzerne wie Deutsche Wohnen, Vonovia oder Akelius.
Rund 20 Prozent des Berliner Bestands von 1,7 Millionen Mietwohnungen haben börsennotierte und finanzmarktorientierte Unternehmen inzwischen zusammengekauft und extrem an der Mietenschraube gedreht. Der Anteil der landeseigenen und genossenschaftlichen Wohnungen liegt derzeit bei rund 31 Prozent. »Berlin ist ungefähr eine erfolgreiche Enteignungskampagne von Wien entfernt«, sagt der Stadtsoziologe Andrej Holm bei einer Veranstaltung des Bildungsvereins Helle Panke der linksparteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung am Donnerstagabend. Rund 44 Prozent der Wohnungen werden derzeit dort gemeinwohlorientiert verwaltet. 1991 lag dieser Anteil in Berlin sogar bei 51 Prozent. »Dann wurden die Weichen falsch gestellt. Einerseits durch Privatisierungen, andererseits durch die Paradoxie des deutschen Fördersystems, bei dem die Bindung irgendwann ausläuft«, so Holm. Sozialwohnungen verlieren diesen Status nach einer Frist von zwei, drei oder auch mehr Jahrzehnten.
Die Initiative für das Volksbegehren will den Status quo nicht hinnehmen. Ausgenommen von dem durch den Senat zu erarbeitenden Sozialisierungsgesetz sind »Unternehmen in öffentlichem Eigentum, kommunale Wohnungsbaugesellschaften in privater Rechtsform und Bestände in kollektivem Besitz der Mieter*innenschaft«. Die Bestände sollen gemeinwirtschaftlich und nicht profitorientiert durch eine Anstalt des öffentlichen Rechts (AöR) verwaltet werden, und zwar unter mehrheitlicher, demokratischer Beteiligung von Belegschaft, Mieter*innen und Stadtgesellschaft. In der Satzung der AöR soll ein Verbot der Reprivatisierung verankert werden. Es soll eine Entschädigung deutlich unter Verkehrswert an die betroffenen Wohnungsunternehmen fließen.
Den letzten Punkt hat die CDU bei einer von ihr beim Institut Dimap in Auftrag gegebenen, repräsentativen Umfrage eher halbherzig beachtet. 51 Prozent der Berliner sind laut den am Donnerstag veröffentlichten Ergebnissen gegen die Sozialisierung, 36 Prozent dafür. Die Frage hatte es aber auch in sich. »Eine Enteignungsinitiative zielt darauf, die größten Wohnungsunternehmen in Berlin zu enteignen. Dies könnte bis zu 36 Milliarden Euro kosten. Die einen sagen, dies wäre eine gute Investition und finden die Enteignungsinitiative gut. Die anderen sagen, das würde dazu führen, dass kein weiterer zusätzlicher Wohnraum geschaffen wird und lehnen die Enteignungsinitiative ab. Welcher dieser beiden Aussagen stimmen Sie zu?«, lautete sie.
»Sie hätten auch gleich die Frage stellen können: ›Sind Sie dafür, dass ein Vulkanausbruch kommt?‹«, kommentiert das Rouzbeh Taheri. »Wir fragen uns, ob die CDU die Umfrage von den Großspenden des Bauunternehmers Christoph Gröner in Höhe von 800 000 Euro in der letzten Zeit bezahlt hat«, so Taheri weiter. Doch wenn selbst bei so einer Suggestivfrage die Zustimmung so hoch ausfalle zeige das, »dass wir in der Lage sein werden, eine Mehrheit zu bekommen«, ist der Aktivist überzeugt.
»Dem Berliner Haushalt werden keine relevanten Kosten entstehen. Alle Kosten der Vergesellschaftung werden von der AöR getragen in Form von Krediten oder Schuldverschreibungen und werden 40 bis 45 Jahre lang zurückgezahlt«, erklärt Taheri zur Finanzfrage. Schließlich stehen der Entschädigung auch mit den Wohnungen Werte gegenüber, bei denen mit den Mieten auch Einnahmen zurückfließen. »Wir können uns streiten, wie viel unter Marktwert die Entschädigung ausfallen wird, aber 36 Milliarden Euro sind eine dreiste Lüge«, so der Aktivist. Da derzeit rund 33 Cent von jedem Euro Mieteinnahmen der Konzerne an die Aktionäre flössen, gebe es auch Spielraum für Mietsenkungen.
Die Linke steht fest zum Volksbegehren, 71 Prozent von deren Wählern unterstützen laut der Dimap-Umfrage das Anliegen. »Wir meinen es ernst mit der Vergesellschaftung. Und wir wollen, dass die Berlinerinnen und Berliner die Gelegenheit bekommen, darüber abzustimmen«, erklärt Landeschefin Schubert.
»Wir unterstützen die Ziele des Volksbegehrens«, sagt Grünen-Landeschef Werner Graf auf nd-Anfrage. Kriterien wie die Anzahl der Wohnungen für die Vergesellschaftungsreife von Beständen sieht seine Partei allerdings kritisch. »Als Regierungspartei den eigenen Bausenator per Volksbegehren zur Vorlage eines Gesetzes aufzufordern, entspricht nicht unserem Demokratieverständnis«, kritisiert Graf das Vorgehen der Linkspartei. Volksbegehren seien ein Instrument der Bürger, nicht der Regierung. »Ich sehe das Enteignungs-Volksbegehren nach wie vor kritisch«, sagt der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD). Auch die SPD-Landesvorsitzende und -Spitzenkandidatin Franziska Giffey äußert sich ablehnend.
Mindestens 220 000 Unterstützerunterschriften wollen die Aktivisten in der viermonatigen Frist sammeln, um sicher die rund 175 000 benötigten gültigen Unterschriften zusammenzubekommen. Rund 1700 Helfer in 16 Kiezteams und sieben Hochschulteams für die Sammlung haben sich schon organisiert, berichtet Leonie Heine von Deutsche Wohnen & Co enteignen. »Wir haben hier etwas Großes vor«, sagt sie.
»Wir haben uns die Entwicklung zu lange angeschaut«, räumt der CDU-Landesvorsitzende und Spitzenkandidat Kai Wegner zur Lage auf dem Wohnungsmarkt ein. Die Enteignungsdebatte sei »unsäglich, ein historischer Irrtum«, sie schade Berlin, glaubt er. Damit liegt er voll auf dem Kurs der Wohnungswirtschaft. Am liebsten würde Wegner die Debatte beenden, erklärt er. Die CDU brauche sie nicht im Wahlkampf, und zwar nicht, weil sie Angst davor habe. »Sie nützt uns eher«, so Wegner.
»Erst deckeln, dann vergesellschaften. Dabei bleiben wir«, sagt Rouzbeh Taheri und vergleicht den Mietenwahnsinn mit einer Krankheit. Für die akute Behandlung sei der zeitlich befristete Mietendeckel die richtige Medizin. Um das Problem grundsätzlich anzugehen, brauche es die Vergesellschaftung.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.