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Am Pol der Hoffnung
Mit Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow sollen zum ersten Mal zwei Frauen die Linke führen.
Manchmal entscheiden Kleinigkeiten in großen Angelegenheiten. Und manchmal hat das auch noch weitreichende Folgen. Als Anfang 2008 in Hessen ein neuer Landtag gewählt wurde, schaffte es die Linkspartei ziemlich knapp ins Parlament. 5,1 Prozent. Gut 3500 Stimmen über der Fünf-Prozent-Hürde; ein Klacks bei fast viereinhalb Millionen Wahlberechtigten. Zum ersten Mal zog die Linkspartei in das Parlament eines westdeutschen Flächenlandes ein, gleichzeitig mit Niedersachsen.
Zur neuen Fraktion gehörte eine junge Frau, Mitte 20, rhetorisch begabt, bisher Verkäuferin in einem Baumarkt und Mitarbeiterin eines Bundestagsabgeordneten der Linken. Janine Wissler wurde stellvertretende Fraktionsvorsitzende, ein Jahr später Vorsitzende. So etwas nennt man eine Blitzkarriere. Seitdem ist sie Politikerin. »Hätten wir damals ein paar Tausend Stimmen weniger gehabt und wären nicht reingekommen«, sagt sie, »wer weiß, was ich dann heute machen würde.«
So aber hat sie an diesem Wochenende einen wichtigen politischen Termin, vielleicht den bisher wichtigsten in ihrem Leben. Sie kandidiert für den Vorsitz der Linken, gemeinsam mit der Erfurterin Susanne Hennig-Wellsow. Die Linke hat schon viel erlebt in ihrer kurzen Geschichte - aber zwei Frauen an der Spitze, das noch nicht. Dass etwas schief geht, glaubt niemand. Das Maß an Unvorhergesehenem ist auch schon randvoll bei diesem Parteitag, der eigentlich in Erfurt stattfinden sollte, im großen Saal. Aber dann kam Corona, eine Verschiebung, noch eine Verschiebung, ein neues Konzept mit einer Mischung aus Anwesenheit und digitaler Beteiligung - und nun schließlich: ein komplett virtueller Parteitag.
Seit Monaten warten Wissler und Hennig-Wellsow darauf, dass es endlich losgeht. Es gibt zwei weitere Kandidaten für den Vorsitz, zwei Männer: Torsten Skott aus Mecklenburg-Vorpommern, der die abgebröckelte Stammwählerschaft der Linken zurückholen möchte, und Reimar Pflanz aus Brandenburg, der sozialistische Opposition ohne Wenn und Aber fordert und in seinem Bewerbungsschreiben um wenigstens drei Stimmen bittet.
Auch wenn er die bekommt, wird das nichts daran ändern, dass die Linke für die nächsten zwei Jahre von zwei Frauen um die 40 geführt wird, die sich als Landespolitikerinnen überregional eine Namen gemacht haben und ziemlich zutreffend die innere Verfasstheit dieser Partei widerspiegeln. Ost und West, Wurzeln in PDS und WASG, Erfahrungen im Regieren und Opponieren inklusive einer gepflegten Kontroverse in diesem Spannungsfeld - dafür stehen die Kandidatinnen. Wissler wird gern als radikale Linke beschrieben; kaum ein Porträt kommt ohne Hinweis auf ihre langjährige Mitgliedschaft im Netzwerk Marx21 aus. Hennig-Wellsow bezeichnet sich als radikale Realpolitikerin, worunter sie versteht, »die Verhältnisse nicht nur zu beschreiben, sondern an der Wurzel zu packen«. Das wiederum könnte auch von Marx stammen.
Sie sind seit Jahren Fraktionsvorsitzende in den Parlamenten der benachbarten Bundesländer Hessen und Thüringen, begegnen sich auf Konferenzen, leisteten gegenseitige Wahlkampfhilfe. In internen Gesprächen waren beide schon seit Längerem vorgeschlagen worden, seit klar war, dass die bisherigen Parteivorsitzenden, Katja Kipping und Bernd Riexinger, ihre Amtszeit nach vier Wahlperioden beenden würden, wie es das Parteistatut dringend empfiehlt. Wissler, seit 2014 schon stellvertretende Vorsitzende auf Bundesebene, habe »lange überlegt«. Hennig-Wellsow lehnte zunächst ab: »Ich hatte so viel in Thüringen zu tun, ich war eigentlich k.o.«
Kein Wunder: Im Herbst 2019 war die Thüringer Linke stärkste Kraft geworden - ein bundesweites Novum. Aber es gab keine klaren Mehrheiten. Rot-Rot-Grün wollte mit Ministerpräsident Bodo Ramelow als Minderheitsregierung weitermachen, doch bei der Abstimmung über den Regierungschef ließ sich der FDP-Politiker Thomas Kemmerich sehenden Auges von CDU und AfD wählen. Ein Skandal ersten Ranges mit einem Bild, das bleibt: Hennig-Wellsow ließ Blumen sprechen und warf in ihrer Empörung Kemmerich den Strauß vor die Füße. Es folgten schwierige Verhandlungen, dann doch eine Minderheitsregierung unter Ramelow, eine Art Stillhalteabkommen mit der CDU. Hennig-Wellsow mittendrin. Da darf man schon mal k.o. sein.
Dennoch haben die beiden Frauen in den letzten Monaten viel miteinander geredet über den Vorschlag einer gemeinsamen Kandidatur. Klar war sehr schnell, sagt Wissler: »Auf keinen Fall treten wir gegeneinander an.« Vielleicht auch, weil sie festgestellt haben, dass es in ihrem Leben einige Parallelen gibt. Als die Mauer fiel, waren sie noch Kinder. Fragt man sie nach den Anfängen ihrer Politisierung erzählen sie ähnliche Begebenheiten. In Wisslers Elternhaus wurden oft linke Debatten geführt, Politik war immer ein Thema; an der Küchentür hing ein kleines Bild von Rosa Luxemburg. Sie erinnert sich, dass ihre Eltern mit ihr eine KZ-Gedenkstätte besuchten. Auch bei Hennig-Wellsow hat ein Besuch in der Gedenkstätte Buchenwald bleibenden Eindruck hinterlassen, »das war in der fünften Klasse, eine Klassenfahrt. Da waren grausame Dinge zu sehen, sicher für unser Alter noch gar nicht geeignet, aber danach hatte ich eine erste Vorstellung davon, was Antifaschismus bedeutet.«
Ein Thema, das beide bis heute begleitet: Wissler bezeichnet die rechtsextremistischen Anschläge Anfang der 90er Jahre in Solingen, Mölln und anderswo als prägende Ereignisse. Hennig-Wellsow hat es heute in Thüringen mit dem wohl aggressivsten AfD-Landesverband zu tun. In Thüringen entstand und endete die Nazi-Terrorzelle NSU, im hessischen Kassel fand einer ihrer Morde statt. Letztes Jahr war Janine Wissler Ziel von Drohungen eines so genannten NSU 2.0.
Nach dem Studium - Wissler studierte Politikwissenschaften, Hennig-Wellsow Erziehungswissenschaften - gingen sie in die Politik. Als Mitarbeiterinnen von Abgeordneten und Fraktionen, dann selbst als Abgeordnete. Wobei Hennig-Wellsow bis heute nicht das Gefühl hat, »dass ich zur Arbeit gehe. Ich habe das Privileg das tun zu können, was ich möchte.«
Was sie als Linke-Vorsitzende erreichen möchte, kann sie in prägnante Formeln fassen: Die Linke brauche eine Machtperspektive, das sei für die Wähler wichtig; sie müsse zu einer Regierung ohne CDU und CSU beitragen und bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. »Nach 30 Jahren Opposition brauchen wir einen deutlichen Willen zum Regieren«, sagt Hennig-Wellsow mit der Erfahrung von sechs Jahren Regierungsführung in Thüringen. »Alles andere würde bedeuten, weiterhin CDU-Regierungen zu akzeptieren.«
Wissler klingt da weniger forsch. Sie spricht über Gründe vieler Linke-Mitglieder, in dieser Partei zu sein und eben nicht bei SPD oder Grünen. Da geht es um Auslandseinsätze der Bundeswehr, Rüstungsexporte, bezahlbares Wohnen, um Klimagerechtigkeit und den konsequenten Kampf gegen rechts. »Die Linke hat viele gute Einzelforderungen«, meint sie, »aber wir brauchen so etwas wie eine Gesamterzählung, die daraus einen politischen Aufbruch macht.« Einen »Pol der Hoffnung« nennt sie das. Den die Partei angesichts von Umfragewerten zwischen sechs und acht Prozent wohl auch selbst dringend benötigt. Wenngleich, meint Hennig-Wellsow, »noch längst nicht ausgemacht ist, was mit der CDU wird, wenn deren Kanzlerkandidatur feststeht«.
Auf den Vorsitz habe sie »jetzt richtig Lust«, sagt Wissler. Hennig-Wellsow, weniger temperamentvoll, äußert »Respekt vor der Aufgabe«, meint aber, ein paar nützliche Erfahrungen aus Thüringen mitzubringen. Zum Beispiel, was das »Primat der Partei« betrifft: »Die Zusammenarbeit mit der Landtagsfraktion war immer gut, und man hat gesehen: Das ist wichtig für den Erfolg.« Ein dezenter Seitenhieb auf die Bundesebene der Linken, die in jüngerer Vergangenheit zuweilen mehr vom Neben- und Gegeneinander zwischen Partei- und Fraktionsführung geprägt war als vom Miteinander. Und vielleicht auch eine Anspielung auf die Kultur des Umgangs miteinander in der Linkspartei. Es sei, sagt der frühere Linke-Politiker Peter Porsch auch aus eigener Erfahrung, »die höchste Form der Parteistrafe, in Führungsämter gewählt zu werden«.
Die Linke geschlossen und möglichst erfolgreich in die Bundestagswahl zu führen, mit der die Nach-Merkel-Ära beginnt und die auch eine Abstimmung über die Corona-Krisenpolitik wird - das ist die erste große Aufgabe für die neuen Vorsitzenden. Noch weiß niemand, ob die Linke am Ende tatsächlich eine Machtperspektive auf Bundesebene hat, ob es eine Mehrheit für ein progressives Bündnis geben wird, wie Susanne Hennig-Wellsow gern formuliert. Und vor allem: wie sich die Partei dann verhält. Aber das ist eine neue Geschichte.
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