Hautfarbe als Kontrollgrund

Eigentlich darf niemand ohne Anlass nur wegen seiner Hautfarbe kontrolliert werden. Doch es gibt Ausnahmen, die umstritten sind

  • Anna Kücking
  • Lesedauer: 7 Min.

Carsten Gericke steht an einem diesigen Morgen vor einem schulterhohen Metalltor in der Balduinstraße im Hamburger Stadtteil St. Pauli und weist auf eine Stelle der gegenüberliegenden Straßenseite hin. Dort habe sich sein Mandant Barakat H. am 15. November 2017 befunden, erzählt der Anwalt. Mit einem Freund sei er auf dem Heimweg gewesen, als er von der Polizei aufgefordert wurde, sich auszuweisen. Es war nicht die erste Kontrolle für Barakat H. «Er hat den Beamten also gesagt, dass er vom Sport kommt und im Stadtteil wohnt. Dass er kein Drogendealer sei», erzählt Gericke. «Und zeigte den Inhalt seiner Tasche.» Verschwitze Sportkleidung, etwas Obst und Gemüse lagen darin, das er vorab eingekauft hatte. Zu diesem Zeitpunkt, so argumentiert Gericke später vor Gericht, hätte die Identitätsfeststellung bereits abgebrochen werden müssen. «Es war klar, dass keine Gefahr vorlag», sagt er. Trotzdem musste Barakat H. sich ausweisen.

Die Polizei Hamburg hat den Bereich St. Pauli Hafenstraße, Balduintreppe und Bemhard-Nocht-Straße zu einem «Schwerpunktgebiet des Betäubungsmittelhandels» erklärt. Die Dealenden dort sollen überwiegend «westafrikanischer Herkunft» sein. Um diesen Rechtsverstößen zu begegnen, hat sie das Gebiet als «gefährlichen Ort» ausgewiesen. Während die gängige Polizeiarbeit üblicherweise der Strafverfolgung dient, geht es an diesen «gefährlichen Orten» um Prävention. Hier werden vage Hinweise als Anhaltspunkte genommen, die mit Verstößen gegen die Rechtsordnung assoziiert werden. Verdachtsunabhängige Personenkontrollen sind hier erlaubt. Auch Hautfarbe und Herkunft sind bisweilen Anlass für diese Kontrollen, und es kommt immer wieder vor, dass die Polizei bewusst Schwarze Menschen in der Öffentlichkeit bittet, sich auszuweisen - Menschen, die im Kiez wohnen, arbeiten, hier geboren und aufgewachsen sind. Kritiker bezeichnen diese Fokussierung auf Menschen anderer Hautfarbe als Racial Profiling. Bremen ist das einzige Bundesland, in dem das Landespolizeigesetz diese Praxis verbietet. Dort dürfen Identitätsfeststellungen nicht allein aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes einer Person durchgeführt werden. Polizist*innen müssen auf Verlangen den Grund der Kontrolle nennen.

Carsten Gericke läuft den schmalen Bürgersteig entlang. Nach ein paar Schritten verlangsamt sich sein Gang. Er dreht sich um. «So, hier war schon die nächste Kontrolle», sagt er. Barakat H. ist heute nicht dabei. Er will nicht mehr von seinen Erfahrungen berichten. Zu oft hat er das schon gemacht. Also erzählt Gericke. Nicht alle Polizeikontrollen, die sein Mandant erleben musste, sind bislang vor Gericht gelandet. «Wir verhandeln erst mal ein paar Fälle. Dann schauen wir weiter.» Eine Studie der Ruhr-Universität Bochum zeigt, dass nur wenige Anzeigen gegen die Polizei Erfolg haben. In über 90 Prozent der Fälle wird das Ermittlungsverfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt. Das mag mitunter auch daran liegen, dass, wenn man Polizist*innen anklagt, dann die Polizei gegen eigene Kolleg*innen ermitteln muss. Unabhängige Beschwerdestellen mit Ermittlungsbefugnis gibt es in Deutschland nicht. Dabei wären zwei von drei Bundesbürger*innen für solche Einrichtungen, wie eine Umfrage des WDR zeigt.

«Diskriminierung rechtlich zu fassen ist schwer», sagt Gericke. Wie lässt sich nachweisen, dass ein Verhalten diskriminierend ist und nicht auf rationale und legitime Anknüpfungspunkte zurückgeht? Vor Gericht nennt die Polizei mal das auffällige Verhalten von Barakat H. als Grund für die Kontrolle, wie im Fall mit der Sporttasche, als er und sein Freund ihre Schritte beschleunigt haben sollen. An anderer Stelle wird seine Hautfarbe als Grund zur Identitätskontrolle genannt. In der Verhandlung entscheidet das Gericht in allen Fällen zugunsten von Barakat H. Doch die Polizei hat Berufung eingelegt. Weshalb, das weiß Gericke nicht.

Ein anderer Tag im Januar in Berlin. Auf der umzäunten Hundewiese im Görlitzer Park raufen sich Doggen mit schnauzenden Chihuahuas, zwei Mannschaftswagen der Polizei stehen am Café Edelweiss. Auch hier sind verdachtsunabhängige Personenkontrollen erlaubt, seit der Görlitzer Park als «kriminalitätsbelasteter Ort» eingestuft wurde. Wainaina Kiagin ist ein hochgewachsener, belesener Mann. «Es ist doch so», sagt er, «niemand wird rassistisch geboren. Hast du auch früher ›Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann gespielt?‹ gespielt», fragt er. «Da fängt es doch schon an. Damit wird gelernt, dass Schwarze kriminell oder beängstigend sind. Und wenn hier im Görlitzer Park willkürlich Schwarze Menschen kontrolliert werden, dann reproduziert sich dieses Bild.»

Der «kriminalitätsbelastete Ort» Görlitzer Park wurde im Mai 2020 auf den anliegenden Wrangelkiez erweitert. Nachdem Anwohner*innen vermehrt polizeiliche Kontrollen bei Schwarzen Menschen im Kiez beobachtet haben, ist die Initiative Wrangelkiez United entstanden, bei der Kiagin aktiv ist. Gemeinsam mit den Linke-Abgeordneten Anne Helm und Niklas Schrader hat die Initiative eine Kleine Anfrage an den Berliner Senat gestellt. Aus der Antwort geht hervor, dass sich rund um den Görlitzer Park die Einsatzstunden der Polizei im letzten Jahr mehr als verdreifacht haben. Verdachtsfälle von Straftaten gegen das Betäubungsmittelgesetz, womit die Einsätze gerechtfertigt werden, sind jedoch nur gering gestiegen. Zudem sind es lediglich Verdachtsfälle. Ob es sich wirklich um eine Straftat handelte, darüber gibt die Statistik keine Auskunft. Als Anlass für Kontrollen an «gefährlichen Orten» sind in der Antwort an erster Stelle Straftaten von erheblicher Bedeutung angeführt. An zweiter Stelle werden Kontrollen damit gerechtfertigt, dass «sich dort Personen treffen, die gegen aufenthaltsrechtliche Strafvorschriften verstoßen.» Wainaina Kiagin zieht sich einen Schal über und reibt seine Hände aneinander, um sie sich in der aufkommenden Nachmittagskälte zu wärmen. Die Initiative fordert einen radikalen Wandel des Asylrechts und die Abschaffung dieser Paragrafen im Berliner Polizeigesetz. Denn damit würden Straftaten erheblicher Bedeutung mit fehlenden Aufenthaltstiteln gleichgesetzt. Vermehrte Kontrollen bei Schwarzen Menschen seien die unmittelbare Folge. Zuallererst brauche es jedoch die Anerkennung der Polizei, dass Racial Profiling überhaupt stattfindet. Eine Studie dazu wurde allerdings im vorigen Jahr von dem Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) abgelehnt.

Die Kulturwissenschaftlerin Vanessa E. Thompson forscht an der Goethe-Unitversität in Frankfurt am Main zu Rassismus und Migration und publiziert seit mehreren Jahren zu Racial Profiling. Dabei macht sie folgende Beobachtung, die auf den Philosophen Louis Althusser zurückgehen, der sagte, dass der moderne Mensch sich durch den Ruf der Polizei selbst bewusst werde. Wenn etwa ein Polizist ruft: «Hey Sie da», würden sich die meisten und insbesondere die wohlhabenden Menschen der westlichen Gesellschaft umdrehen, da sie erwarten, von der Polizei geschützt und anerkannt zu werden. Aber keineswegs alle Menschen würden sich umdrehen, meint Thompson. «Antikoloniale Analysen haben gezeigt, dass die Beobachtung von Althusser nicht für alle Menschen greift. Kolonialisierte, marginalisierte und arme Menschen würden dem polizeilichen Blick eher entfliehen, weil er für sie systematische Gewalt bedeutet.» Die Funktion der Polizei beruhe laut ihrer Forschung vornehmlich darauf, Besitz zu schützen und vorherrschende Ausbeutungsverhältnisse zu bewahren. Für die gesellschaftlich Marginalisierten bedeute «die Polizeipraxis Demütigung bis hin zu gezielter Verfolgung». Es gehe es auch um die Kontrolle und Kriminalisierung von Menschen, die als ›überflüssig‹ konstruiert werden«, meint Thompson. Das seien »rassifzierte, migrantisierte und arme Gruppen, sexarbeitende, wohnungslose Menschen«.

Zurück in Hamburg. Christophe Cissé tunkt im verlassenen Buttclub in der Hafenstraße seinen Teebeutel in eine Tasse. Hinter ihm baumelt eine bunte Lichterkette vor einer weißen Wand. Der Anwalt Gericke hat den Kontakt zu dem Aktivisten hergestellt. In Mali arbeitete Cissé als Lehrer, dort lernte er eine Deutsche kennen, sie verliebten sich und gingen 2012 zusammen nach Deutschland. Als er erfuhr, dass das Kind, das sie gebar, nicht von ihm war, ließ er sich scheiden und verlor damit seine Aufenthaltserlaubnis. Seitdem ist er in Deutschland nur noch geduldet und kämpft um seinen Asylstatus.

Normalerweise veranstaltet der Buttclub Frühstück für geflüchtete Menschen aus der Umgebung. Daher klopft es immer wieder an der schweren Tür. Doch wegen Corona bleibt sie geschlossen.

Auch Cissé wird im Kiez immer wieder anlasslos kontrolliert. Mittlerweile hat er sich Strategien überlegt, die Kontrollen zu umgehen: Nie gehe er einen Weg zweimal, und er ziehe sich unterschiedliche Kleidung an, um nicht erkannt zu werden. Überhaupt gehe er nur selten raus. Cissé sagt, er habe immer mit dem Mund gekämpft. »Aber mein Mund ist nicht mehr effizient.« Nicht in Mali, wo die von den französischen Kolonialisten marginalisierten Tuareg bis heute Terroranschläge verüben. Auch nicht in Deutschland, wo Sprache allein nicht ausreicht, um als Asylsuchender anerkannt zu werden. Er nimmt einen Schluck aus seiner Tasse, wieder klopft es an der Tür. »Weißt du«, sagt er. »Manchmal werde ich nervös.«

nd-Faktencheck

»Was wir den Toten schuldig sind« – unter dieser Überschrift hat »nd« zum ersten Jahrestag des rechtsextremen Anschlags von Hanau eine Recherche veröffentlicht. Wir hatten Bundes- und Landesbehörden gefragt, welche Schlussfolgerungen sie aus Rechtsextremismus und rechter Gewalt gezogen haben. Die Antworten unterziehen wir einem Faktencheck. Zahlreiche Innenministerien betonten, dass in der Polizeiausbildung Wert auf Sensibilisierung für rassistische Tendenzen, auf interkulturelle Kompetenz und auf Fragen der Menschenwürde gelegt werde. Teils wurde ausdrücklich die Auseinandersetzung mit Racial Profiling erwähnt dasND.de/fragennachhanau

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