Die Geister, die keiner rief

Fußballspiele ohne Publikum sind schlimm – und besonders schlimm für Trauernde, die sich von ihren dahinscheidenden Vereinen nicht anständig verabschieden können.

Es wird Frühling. Das sieht man mancherorts beim Spazierengehen und flächendeckend daran, dass die Supermärkte längst wieder Schokoladen-Osterhasen im Sortiment haben. Für Fußballfans dürfte sich derweil durch den Temperaturanstieg nicht allzu viel ändern. Da es in Sachen Impfen und Testen hierzulande mit Sieben-Millimeter-Stiefeln vorangeht, wird es wohl noch sehr lange dauern, bis wieder Fußballspiele vor Publikum stattfinden können.

Bis es so weit ist, werden sich die ersten Jugendlichen schon daran gewöhnt haben, dass bei Übertragungen aus der ersten Liga nur das gleiche Gemurmel und Geschreie zu hören ist wie auf den Kreisligaplätzen, zu denen sie nie mitgenommen wurden, um die wohlverdienten täglichen zehn Online-Stunden nicht unnötig zu unterbrechen. Selten ist der ganze Wahnsinn besser beschrieben worden als von Ingo Petz neulich im »nd«.

Christoph Ruf
Christoph Ruf, Fußballfan und -experte, schreibt immer montags über Ballsport und Business.

Auch Erstligafans sind fühlende Wesen, einsame Seelen, die sich an Samstagen wegsehnen vom Nachmittagsspaziergang, dem Kinderlärm, dem Familieneinkauf. Sie tun dann komische Dinge, joggen wie zufällig am Stadion vorbei, kaufen für zu Hause die Biermarke, die es auch im Stadion gibt. Grölen unter der Dusche Fußballlieder, die sie im Stadion nie mitsingen würden.

Manchmal trifft man solche Menschen auch nach dem Schlusspfiff noch im unmittelbaren Stadionumfeld. So wie die ältere Frau, die mich am Samstag in Freiburg ansprach. »Sie waren da drin?«, fragte sie irritiert. Nur um mich dann – als ich ihr fast schon kleinlaut Sinn und Zweck meiner Pressekarte erläutert hatte – anzusehen, als müsse ich auf der Stelle von fachlich geschultem Personal übernommen werden. »Und das macht Spaß?«, fragte sie. »NEIN!«, rief ich so verzweifelt, dass die Scheiben der angrenzenden Häuser bedenklich zu wackeln anfingen. Aber da war sie schon weg.

Fußball unter Publikumsausschluss ist wohl für alle Dauerkarteninhaber Europas wie ein Konzert der Lieblingsband nach einem Stromausfall. Richtig schlimm aber muss es für Fans von Vereinen sein, die sich ausgerechnet die Pandemiezeiten ausgesucht haben, um so richtig den Bach runterzugehen. Nehmen wir einmal Schalke 04, oder noch besser: den 1. FC Kaiserslautern. Beide Vereine weisen bei der Zusammensetzung des Cocktails aus Dilettantismus und Größenwahn erstaunliche Parallelen auf. Doch das hat zehntausende Fans nicht daran gehindert, Jahr für Jahr, Woche für Woche, wiederzukommen, nur um sich erneut enttäuschen zu lassen. Aus Gründen, die erneut in den Kompetenzbereich von einschlägig geschultem Personal fallen. Aber auch zu einem kleinen Prozentsatz aus der verzweifelten Hoffnung heraus, dass genau in dieser Saison Klaus Toppmöller, Michael Ballack und Miro Klose gleichzeitig wieder im FCK-Trikot spielen und mit einem souverän herausgespielten 8:0 gegen Großaspach die Wende zurück in eine glorreiche Zukunft einläuten. Natürlich gewinnt im echten Leben dann Großaspach auf dem Betze, und Schalke verliert 0:5 zu Hause gegen Augsburg.

Als FCK- oder Schalke-Fan weiß man dann wieder, dass so ein Virus auch etwas Erlösendes haben kann. Man darf gegen Mainz oder Unterhaching einfach nicht ins Stadion – und muss sich ein paar Wochen am Stück nicht die quälende Frage stellen, warum man ohne Verbot aus der Politik doch wieder da stünde, wo man immer steht.

Eines aber will man nicht als Fan: Ausgerechnet dann nicht dabei sein, wenn der fünfte Sprung von des Teufels Schippe misslingt, wenn sich die vermeintliche Gewissheit, dass es irgendwann einmal nicht mehr weiter runtergeht als gegen Verl, in Luft auflöst. Man will am 22. Mai vor Ort sein, wenn der FCK, einst stolzer Meister und Europapokal-Dauergast, tatsächlich in die vierte Liga absteigt. Vielleicht auch, weil man die wichtigen Dinge des Lebens nur analog so richtig begreift.

Nach Lage der Dinge spielt Lautern am 22. Mai in einem menschenleeren 50 000er-Stadion gegen Verl. Vielleicht ist der Verein dann schon gerettet, vielleicht steht er dann schon als Absteiger fest. Vielen FCK-Fans dürfte beides lieber sein als die dritte Option: ein Geisterspiel, in dem es um alles geht.

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