»Ein sehr gescheites Frauenzimmer«

Michael Brie und Jörn Schütrumpf präsentieren ein besonderes Geburtstagsgeschenk für Rosa Luxemburg

Ein starker Aufschlag. »Die politische Linke hat es selten verstanden, ihre abstrakten Ideen von Freiheit und Emanzipation sowohl des Einzelnen als auch der Gesellschaft so darzulegen, dass sie für Außenstehende verständlich und vor allem attraktiv geworden wären. Häufig versuchte die Linke diesen Mangel auszugleichen, indem sie sich ihre eigenen Absichten von Freiheitskämpfern aus vorvergangenen Zeiten bezeugen ließ«, bemerken Michael Brie und Jörn Schütrumpf im Vorwort zu ihrem Buch über Rosa Luxemburg, just zu ihrem 150. Geburtstag am 5. März erschienen. Der Philosoph und der Historiker nennen als beliebte Bezugspersonen der Linken in all ihren Facetten unter anderem Roux, Babeuf, Owen, Bakunin, Bebel, Sandino, Trotzki und Ho Chi Minh. Im öffentlichen Raum und öffentlichen Bewusstsein sind jene und viele andere Vordenker und Vorkämpfer indes kaum mehr präsent. Neben Marx seien es »nur noch drei Menschen, deren Bilder fast überall vorzeigbar sind: das einer polnischen Jüdin, die in Deutschland ermordet wurde, das eines Argentiniers, der 1967 in Bolivien zusammen mit seiner deutschen Freundin in die Fänge seiner Mörder geriet, sowie das eines Italieners, den Benito Mussolini nach mehreren Jahren Kerkerhaft 1937 zum Sterben freiließ: Rosa Luxemburg, Ernesto Che Guevara und Antonio Gramsci.« So Brie/Schütrumpf. »Alle drei stehen nicht nur für die so seltene Einheit von Wort und Tat. Sie stehen auch für ein eigenständiges Denken, das sich keiner Doktrin, geschweige denn einem Apparat unterordnete. Und: Alle drei haben ihre Überzeugungen mit dem Leben bezahlt.«

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Michael Brie/ Jörn Schütrumpf: Rosa Luxemburg. Eine revolutionäre Marxistin an den Grenzen des Marxismus.
VSA, 256 S., br., 16,80 €. •

Man ist etwas verwundert, wie sich dieses Autorenduo zusammenfand. Stellt doch der Historiker eher die Differenzen zwischen Luxemburg und Lenin heraus, wobei sein Urteil über den russischen Bolschewik recht kritisch ausfällt, während der Philosoph die Meinungsverschiedenheiten zwischen der deutsch-polnischen Revolutionärin und dem Begründer des Sowjetstaates moderater wertet und mit einer Lenin-Biografie jüngst eine Art Ehrenrettung für den vielfach - auch unter Linken - geschmähten Russen unternahm. So jedenfalls meine Beobachtung.

Wie dem auch sei, nach Lektüre dieses Buches ist zu goutieren, dass es ein vortreffliches Gespann ist, um an eine der faszinierendsten und schillerndsten Person der Geschichte zu erinnern: »An eine Frau, die es ablehnte, wegen ihres Geschlechtes bevorzugt behandelt zu werden, da sie wusste, dass solches Verhalten nur darauf abzielte, die Verweigerung von Gleichberechtigung zu legitimieren. An einer Denkerin, die Gleichheit in Freiheit und Solidarität erstrebte - ohne das eine gegen das andere auszuspielen. An einer Frau, die vieles von dem hatte, was die politische Linke heute erst wieder erlernen muss.« Brie/Schütrumpf entschlossen sich, Rosa Luxemburg selbst mit längeren Zitaten zu Worte kommen zu lassen.

Auffällig ist, dass die beiden von einem »widersprüchlichen Ganzen« im Werk der Luxemburg sprechen, mehr noch: »Luxemburg aber ist ein Raum gelebter Widersprüche.« Sie würdigen ihre Protagonistin eher als politische Journalistin und Aktivistin denn als Theoretikerin oder Politikerin. »Sie hat keinen Staat gegründet wie Lenin und kein Jahrtausendwerk wie Marx’ ›Kapital‹ geschrieben.« Was Rosa Luxemburg heraushebe, sei ihr Leben selbst, »hochpolitisch und hochpersönlich«. Brie/Schütrumpf stellen sie als »begnadete Rednerin, den Massen zugewandt«, vor, die sich auch ganz »auf sich selbst, die Malerei, Musik, Pflanzen und Tiere zurückziehen« konnte. Die Autoren zitieren Luxemburgs Grundsatz: »Stets ich selbst zu sein, ganz ohne Ansehen der Umgebung und der anderen.« Emotional, einfühlsam und kenntnisreich zeichnen die Autoren ein lebendiges, charakterstarkes Porträt.

Mit von der Partie sind selbstredend Mitstreiter, Kampfgefährten, auch Gegner. Die Autoren würdigen den politisierenden Einfluss von Leo Jogiches auf Rosa Luxemburg, »ein Revolutionär der Tat« (und ihr Geliebter), vier Jahre älter als sie und wie sie feige ermordet, im März 1919 im Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit. Informationen wie die, dass alle Partner von Luxemburg bis auf Jogiches jünger waren als sie - Kostja Zetkin, Sohn der Mitstreiterin und Freundin Clara Zetkin, um 14 Jahre, Paul Levi 12 Jahre und der Arzt Hans Diefenbach 13 Jahre -, mögen manchem irrelevant erscheinen, sind aber in Anbetracht der verschämten realsozialistischen Historiografie respektive Hagiografie bezüglich des Privatlebens der Klassiker des Marxismus und Ikonen der Arbeiterbewegung legitim. Vielleicht auch mal notwendig.

Keine Bange, voyeuristische, anzügliche Blicke durchs Schlüsselloch bieten Brie/ Schütrumpf nicht. Da ist ihr Respekt zu allmächtig. Wichtig ist ihnen die Kritik der Rosa Luxemburg an Doppelmoral und Scheinheiligkeit im Kaiserreich wie auch teils in der eigenen Partei, mit deren tonangebenden, sich mitunter ebenfalls recht patriarchalisch gebärdenden Männern sie trefflich zu streiten wusste.

Ihre »kurze, aber heftige Affäre« mit Levi, ihrem Anwalt, der ihr (kurzzeitiger) Nachfolger an der Spitze der KPD war, ist erst 1983 bekannt geworden, als seine Familie einen Großteil des Briefwechsels mit Rosa Luxemburg freigab. Levi hat ihren Nachlass gerettet und 1922 »heftig angefeindet« ihr Manuskript zur russische Revolution ediert - ihre »am meisten zitierte und am häufigsten missverstandene Arbeit mit dem berühmten kategorischen Imperativ ›Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden‹«. Was gegen jeden Opportunismus zielte, wie die Autoren explizit betonen. Der Historiker und der Philosoph diskutieren alle von ihnen begutachteten Schriften der Rosa Luxemburg mit Blick aufs Heute. »Nur jene Gesellschaft ist frei zu nennen, in der jede und jeder Einzelne frei ist. Dies aber ist nur möglich, wenn die freie Entwicklung einer und eines jeden zur solidarischen Entwicklung aller beiträgt.« Treffend gerade auch in Zeiten der Pandemie.

Nicht minder aktuell ihr Frühwerk »Sozialreform oder Revolution?«, das mehr Menschen für Marxens Vision einer ausbeutungs- und kriegsfreien Gesellschaft begeistert haben soll als jedes andere Werk sozialistischer/kommunistischer Literatur. Brie und Schütrumpf merken an: »Auch heute noch bietet es auf anregende Weise einen guten Überblick über den ursprünglichen Marxismus - also über jenen Marxismus, der noch nicht durch den späten Kautsky verunstaltet sowie durch Stalin und seine Adepten bis zur Unkenntlichkeit geschändet worden war.«

Rosa Luxemburgs Ausruf »Wir sind wieder bei Marx, unter seinem Banner« in ihrer letzten öffentlichen Rede auf dem Gründungsparteitag der KPD am 31. Dezember 1918 erörtern die Autoren im Kontext und Kontrast zum »Ersatz-Marxismus der SPD«. Sie weisen ausdrücklich darauf hin, dass sie nicht deklarierte: »Wir sind wieder beim Marxismus.« Eingehend und mit eigenem reichen Erfahrungsschatz aus DDR-Zeiten ausgestattet, widmen sich Brie/Schütrumpf der Diskrepanz zwischen »offiziellem Marxismus« sowie »wahrem, unverfälschtem Marxismus« und unterstreichen: »Den einzigen ›Ismus‹, den Rosa Luxemburg ohne Zweifel immer akzeptierte, war der Sozialismus.« Wie dieser zu erkämpfen ist, war (und ist immer noch?) innerhalb der SPD umstritten. Bekannt ist die grandiose, kompromisslose Auseinandersetzung der Luxemburg mit Eduard Bernstein - in die Analen der Parteigeschichte als »Revisionismusstreit« eingegangen -, mit der die junge Frau sich Aufmerksamkeit und Achtung innerhalb der männlichen Führungsriege der Partei verschaffte. Vor allem bei August Bebel. »Sie ihrerseits war von dem alten großen Mann ehrlich hingerissen«, notieren Brie/Schütrumpf. »Auf einem Parteitag jener Jahre rutschte ihr in aller Öffentlichkeit ein ›August, ich liebe Dir‹ heraus. Er wiederum schrieb über sie in einem Brief wohlweislich: ›... sie ist ein sehr gescheites Frauenzimmer und wird ihren Mann stehen.‹«

Apropos, hatte sich Luxemburg in ihren Schweizer Studienjahren in der Frauenrechtsbewegung stark engagiert, so hielt sie sich seit ihrer Übersiedlung nach Berlin und ihrem Eintritt in die SPD diesbezüglich vornehm zurück. Nicht, weil ihr die Gleichstellung der Frau nicht mehr wichtig erschien, sie setzte halt andere Prioritäten. Den Bitten von Clara Zetkin, der 14 Jahre älteren »Grand Dame« der nationalen und internationalen sozialistischen Frauenbewegung, Artikel für die von ihr herausgegebene Zeitschrift »Die Gleichheit« zu verfassen, kam Rosa Luxemburg nur selten nach. Sie verstand sich, so Brie/ Schütrumpf, nicht als Politikerin, sondern als Politiker - »auf Augenhöhe mit ihren männlichen Kollegen«.

Ihr trotz kräfteaufreibenden Einsatzes im Wahlrechtskampf scheinbares Desinteresse an Frauenfragen irritierte und irritiert noch heute Feministinnen; genauso wie ihre Haltung zur »polnischen Frage« vielen Linken bis heute unverständlich bleibt. Auch darüber klären Brie und Schütrumpf ausführlich und sachkundig auf.

Die Autoren buchstabieren Luxemburgs Werk, Denken und Handeln komplett durch. Nichts scheint zu fehlen: von revolutionärer Realpolitik über Generalstreik, Krieg und Frieden bis hin zur Revolution in der Praxis, dem deutschen November 1918. Beeindruckend und erhellend die biografische Detaildichte, die Akribie in der Personnage und Ereignisabfolge; erkenntnisreich und anregend die philosophischen Exkurse und Dispute. Brie/Schütrumpf legen keine Biografie im klassischen Sinne vor. Sie verweben den Lebensweg der Rosa Luxemburg mit deren opulenter Gedankenwelt. Und sie überraschen immer wieder mit einem frischen, freien/befreienden Blick auf die Sozialistin, Kommunistin, Internationalistin. Manch Leser mag an einigen Stellen die Stirn runzeln oder erstaunt die Augenbraue heben, ein paar Absätze weiter wird er bemerken: Es ist alles logisch, stringent, überzeugend dargelegt. Und kann natürlich diskutiert oder negiert werden.

Kostprobe gefällig? »Es gibt ein bleibendes Paradoxon: Luxemburg war sehend und blind zugleich. Sie hatte einen grenzenlosen Optimismus, wenn es um die Einsichtsfähigkeit der Arbeiterinnen und Arbeiter ging, ihre kapitalistische Abhängigkeit zu überwinden ... Sie konnte hellsichtig die Russische Revolution von 1905 als Ausdruck der lebendigsten Selbstorganisation und Selbstermächtigung von Menschen sehen, übersah aber fast völlig die unverzichtbare Rolle von fest gefügten Organisationen oder griff sie als Herrschaftsinstrumente an. Sie insistierte auf der Solidarität der Klassen über alle Grenzen von Nationalitäten und Rassen und Geschlechter hinweg und verweigerte sich deshalb gegenüber den besonderen ›Judenschmerzen‹, der Eigenständigkeit von Kämpfen gegen Patriarchat oder gegen die Vormacht einer Nation über andere.« .

Dies sollte genügen, um Appetit zu machen auf einen Band, der einen opulenten Fundus an Anregungen und Argumenten für gegenwärtige linke Kämpfe und linke Politik bietet. Brie/Schütrumpf beenden ihr Werk mit Verweis auf die »Denkzeichen« in Berlin, der Stadt, in der sie am 15. Januar 1919 ermordet worden ist. Ins Straßenpflaster eingelassene Sätze. Der Historiker und der Philosoph fragen sich: »Ob Rosa Luxemburg über den Gedanken, ihre Aussagen für die Ewigkeit in Bronze gegossen zu sehen, nicht in ihr gefürchtetes Gelächter ausgebrochen wäre, werden wir nie erfahren.« Nun, vermutlich würde sie sich mehr freuen, wenn wir ihr Vermächtnis erfüllen. So oder so.

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