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»Wir brauchen eine barmherzige Lesart des Korans«
Hassan Geuad protestiert mit Straßenperformances gegen islamistischen Terror und kämpft für einen fortschrittlichen Islam
Herr Geuad, fürchten Sie sich vor dem nächsten islamistischen Terroranschlag?
Ja. Zwar denke ich, dass der Islamische Staat als Gruppe besiegt ist, aber als Ideologie des radikalen politischen Islam lebt er weiter. In den letzten 50 Jahren ist er immer wieder unter verschiedenen Namen und Fahnen aufgetreten und hat auch Terroranschläge verübt. Darum ist es leider nur eine Frage der Zeit, bis der nächste Anschlag verübt wird.
Der 30-Jährige ist Muslim - und engagiert sich gegen Terror im Namen des Islam. Hassan Geuad wurde 1990 in Bagdad geboren. Weil sein Vater nicht an der Instandsetzung von Kriegswaffen für Diktator Saddam Hussein mitarbeiten wollte, floh der Ingenieur 1997 nach Deutschland. 1999 holte er seine drei Kinder nach. Geuad wuchs in Oerlinghausen bei Bielefeld auf und hat die deutsche Staatsbürgerschaft. Seit der »Islamische Staat« ab 2014 anfing, weltweit Terror und Schrecken zu verbreiten, fordert Geuad von Muslimen in aller Welt eine klare Distanzierung von Terror und Gewalt. Mit seinem Bruder Muhammed gründete er die Gruppe »12thMemoRise«. Mit drastischen Aktionen in deutschen Fußgängerzonen protestiert diese gegen den Missbrauch der Religion für Terrorakte. Dafür erhalten die Aktivisten regelmäßig Morddrohungen. Geuad studierte Germanistik und Kommunikationswissenschaft und arbeitet als Marketinganalyst. Diesen Montag erscheint im Westend Verlag sein Buch »Möge Allah dich in die tiefste Hölle schicken«. Philipp Hedemann sprach mit dem Autor über Terror, Hass, Angst und seinen Traum von einem modernen Islam.
Welche Folgen haben islamistische Terroranschläge für Sie persönlich?
Ich habe bei Anschlägen im Irak drei Freunde und einen Cousin verloren. Aus Erfahrung weiß ich zudem, dass solche Anschläge immer zu pauschalen Verurteilungen führen. Bei vielen Menschen entsteht im Kopf dann die Gleichung: Muslime gleich Gefahr. Ich kämpfe dafür, dass diese Gleichung nicht mehr aufgeht.
Sie und Ihre Mitstreiter von der Aktionsgruppe »12thMemoRise« machen mit drastischen Aktionen auf islamistischen Terror aufmerksam. Als IS-Krieger verkleidet haben Sie in deutschen Fußgängerzonen Hinrichtungsszenen nachgespielt, einen IS-Sklavenmarkt veranstaltet, auf dem Sie junge Frauen »versteigert« haben, und mit blutverschmierten Händen Zettel mit salafistischen Botschaften verteilt. Warum tun Sie das?
Nach den ersten widerlichen Terroranschlägen des IS habe ich mich gefragt: Was kann ich in Deutschland machen, um die Leute vor Terroranschlägen zu warnen? Denn die in Deutschland aktiven Salafisten sind eine konkrete Gefahr. Unter ihnen sind auch Konvertiten, die man nicht einfach so abschieben kann. Die Straßenaktionen waren nicht unsere erste Wahl. Zunächst sind wir auf die islamischen Dachverbände zugegangen und wollten mit ihnen eine Großdemo organisieren. Wir wollten zeigen, dass die überwältigende Mehrheit der Muslime gegen Terror ist und dafür auch auf die Straße geht. Aber damit sind wir gescheitert.
Und dann haben Sie sich für die schockierenden Street Performances entschieden?
Ja. Wir waren verletzt und enttäuscht, dass die Dachverbände islamistischen Terror offenbar nicht als großes Problem sehen und sich darum nicht wirklich kümmern. Als Jugendliche ohne Kontakte und finanzielle Mittel fiel uns dann diese Möglichkeit ein.
Im Oktober 2014 fand in Essen Ihre erste Aktion statt. Was war der Anlass?
Zwischen dem 11. und dem 15. Juni des Jahres tötete der IS bei Tikrit im Irak bis zu 2000 junge Luftwaffenkadetten auf bestialische Art. Einer von ihnen war mein Freund. Und wäre meine Familie nicht zuvor aus dem Irak geflohen, wären mein Bruder und ich vielleicht auch unter den Opfern gewesen.
Auch Kinder wurden unfreiwillig Zeugen Ihrer furchteinflößenden Aktionen. Schert es Sie nicht, dass sie dadurch traumatisiert werden könnten?
Wir können das leider nicht vollständig ausschließen. Vor den Aktionen haben wir immer per Lautsprecher durchgesagt: »Wir sind eine friedliche muslimische Gruppe und kritisieren den Terror. Wir führen eine Kunstaktion auf, alles ist nur nachgestellt.« Sollten Kinder dennoch einen Schrecken bekommen haben oder sogar traumatisiert worden sein, tut mir das sehr leid.
Um Ihre Kunstaktionen möglichst realistisch wirken zu lassen, haben Sie viele Hinrichtungsvideos des IS angeschaut. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Obwohl ich damals schon erwachsen war, haben meine Eltern mir verboten, solche Videos anzuschauen. Sie meinten, es verhärtet das Herz. Aber wir mussten uns die Videos ansehen, um zu wissen, wie bestialisch der IS vorgeht. Wir wollten die Ästhetik dieser schrecklichen Videos begreifen. Es klingt furchtbar, aber es handelt es dabei um filmische Meisterleistungen. Sie wurden offensichtlich geprobt und mit mehreren Kameras gefilmt, um den ganzen Schrecken einzufangen. Das ist teuflisch. Seitdem ich mir die Aufnahmen angeschaut habe, habe ich immer wieder Albträume. Eine Zeit lang habe ich im Schlaf oft geschrien und um mich geschlagen.
Welches Video war am schlimmsten?
Die Enthauptungsvideos waren schlimm, aber viel schlimmer war das Video des gefangenen jordanischen Piloten, den der IS in einem Käfig verbrannt hat. Wie seine Hände sich an das Gitter krallen, diese tiefe Angst und Leere in seinen Augen, als die Flammen näherkommen. Ich werde diese Bilder wohl nie mehr aus dem Kopf kriegen.
Warum haben Sie sich das Verbrennungsvideo angeschaut?
Bei einer Kunstaktion wollten wir die Szene nachstellen, aber das haben wir nicht hinbekommen, weil uns die finanziellen Mittel fehlten, um uns einen feuerfesten Anzug zu leisten. Um unabhängig zu bleiben, haben wir nie Spenden angenommen.
Wegen der Aktionen haben Sie zahllose Drohungen aus der islamischen Community erhalten. Radikale Prediger erklärten Sie zu Abtrünnigen, und nach Auffassung mancher Islamisten müssen Abtrünnige getötet werden. Wie gehen Sie damit um?
Über die Drohung »Möge Allah dich in die tiefste Hölle schicken« - den Titel meines Buches - musste ich nachdenken. Ich bin ja gläubiger Moslem. Könnte ich für das, was ich tue, tatsächlich in die Hölle kommen? Die Antwort war schnell: Niemals! Ich mache ja nichts Falsches. Die Drohungen, die von Fake-Profilen verschickt werden, machen mir keine Angst. Aber wenn mir jemand mit seinem Klarnamen eine Morddrohung schickt, macht mir das Angst. Da denke ich: So jemand meint es wirklich ernst. Ich habe das zur Anzeige gebracht. Aber obwohl der Absender - ein Gelehrter eines radikalen Vereins in Deutschland, der unter anderem wegen antisemitischer Aktionen unter Beobachtung steht - namentlich und mit Adresse bekannt ist, ist nie etwas passiert. Einen Anwalt konnte ich mir nicht leisten.
Ist Ihnen je etwas passiert?
Ich bin auf der Straße bedroht und nachts in Düsseldorf vom Fahrrad gestoßen worden.
Wie schützen Sie sich?
Nachdem das Erste im Jahr 2017 einen Dokumentarfilm über uns gezeigt hatte, erhielt ich einen Anruf vom Staatsschutz. Die Beamten sagten mir, dass die zuvor noch abstrakte Bedrohung jetzt konkret geworden sei und dass ich deshalb Anspruch auf Personenschutz hätte, den der Staat bezahlen würde. Aber ich habe das abgelehnt.
Warum?
Das wäre mir zu krass gewesen. Ich hätte mein normales Leben nicht weiterführen können. Ich wollte auch nicht, dass meine Familie, meine Freunde und meine Nachbarn sehen, dass ich anscheinend in Gefahr bin. Und ich habe auch nicht die Notwendigkeit gesehen. Ich glaube, dass so etwas in Deutschland niemals passieren wird.
Was haben Sie gegen Ihre Angst getan?
Ich hatte damals auf meinem Nachtisch immer eine Softair-Pistole, die wir für die Hinrichtungsaktion besorgt hatten. Aber das war eine rein mentale Sache. Die Waffe sah zwar täuschend echt aus, aber ich hätte mich damit nicht verteidigen können. Die hätte höchstens blaue Flecke gemacht.
Warum tun Sie sich das alles an?
Mein Gewissen zwingt mich dazu. Wir wollten einen friedliebenden Gegenpol zum IS bilden.
Über eine Million Leute haben Ihre Videos gesehen. Stehen Sie gern im Mittelpunkt?
Nein! Durch die Arbeit mit 12MemoRise hatte ich überhaupt kein normales Leben mehr. Neben den Drohungen kursierten im Internet pornografische Inhalte, in die die Köpfe von mir und meinem Bruder montiert wurden. Radikale Prediger haben uns zum Abschuss freigegeben. Meine damalige Verlobte hielt das nicht mehr aus und hat sich auf Druck ihrer muslimischen Familie von mir getrennt, viele Freunde haben sich von mir losgesagt. Wir haben uns in der Gruppe zerstritten und ich habe oft stundenlang geweint. Ich habe Panikattacken, Herzrasen, Verdauungsprobleme, Appetitlosigkeit und andere gesundheitliche Probleme bekommen. Zweimal bin ich bei Schwächeanfällen umgekippt. Mein Studium ging den Bach runter und meine finanzielle Lage war sehr prekär. Irgendwann sind wir zusammengebrochen und haben die Arbeit beendet. Aber nach kurzer Zeit sind wir zurückgekommen, weil wir unseren Gegnern den Triumph nicht gönnen wollten.
Wen wollen Sie erreichen?
Wir haben immer zwei Zielgruppen vor Augen: Am wichtigsten sind uns die Muslime, auch die radikalen. Denn wir versuchen als gläubige Muslime - nicht als Ex-Muslime oder als Nichtmuslime - eine Veränderung des Islams voranzutreiben. Kritisiert man den Islam von außen, wird man schnell als Nazi, Anti-Muslim, Atheist oder Zionist abgestempelt. Um auch radikale Muslime zu erreichen, wählen wir für unsere Videos immer Titel, nach denen Extremisten gerne suchen. Solche Leute geben bei Google nicht ein: »Ich bin radikal. Ich brauche Hilfe«. Die suchen eher nach »IS Anschläge in Deutschland«. Wir betreiben quasi zielgruppengerechte Suchmaschinenoptimierung. Mit Erfolg! Uns haben tatsächlich Radikale geschrieben, dass sie durch unsere Aktionen zum Nachdenken angeregt wurden. Ein damals 17-jähriger deutscher-ägyptischer junger Mann aus Berlin hat uns geschrieben, dass unsere Aktion ihn davon abgehalten habe, sich dem bewaffneten Dschihad in Syrien anzuschließen.
Und wer ist die zweite Zielgruppe?
Die deutsche Gesellschaft. Wir haben uns immer gefragt: Was fehlt der deutschen Gesellschaft? Wir glauben, ihr fehlen junge Muslime, die lautstark gegen den Terror auf die Straße gehen und auch Selbstkritik üben.
Nach islamistischen Terroranschlägen sagen Muslime in aller Welt, das habe nichts mit dem Islam zu tun. Sagen Sie das auch?
Nein. Jeder, der sich mit dem Islam auskennt, kann das nicht guten Gewissens sagen. Natürlich hat der Terror nichts mit der friedlichen Botschaft des Islams zu tun. Sonst hätte ich dieser Religion längst den Rücken gekehrt. Aber der Islam hat auch radikale Inhalte, und Muslime, die Anschläge verüben, berufen sich darauf. Diese Werke werden auch in deutschen Moscheen gepredigt.
Was kann man dagegen tun?
Wir müssten diese Inhalte bereinigen. Wir brauchen neue Übersetzungen und Kommentare, die darauf hinweisen, dass bestimmte Stellen in islamischen Schriften, die Terror scheinbar rechtfertigen, nur im historischen Kontext verstanden werden können. Wo das nicht möglich ist, darf man auch nicht davor zurückschrecken, bestimmte Abschnitte komplett zu streichen. Ich spreche hier ausdrücklich nicht vom Koran, sondern von islamischen Schriften, die später entstanden. Zwar enthält auch der Koran viele Verse, zum Beispiel über Ungläubige, die missbraucht werden können, aber natürlich können wir sie nicht einfach streichen. Das gäbe einen riesigen Aufschrei. Aber wir können sie modern kommentieren und interpretieren. Wir brauchen nichts Geringeres als eine komplett neue, barmherzige Lesart des Korans.
Welche Schriften würden Sie verbieten?
Viele Schriften der Salafisten. Sie folgen der wahhabitischen Rechtsschule und sind mit dem deutschen Grundgesetz nicht vereinbar. Wenn der Staat sie verbieten würde, gäbe es aus der muslimischen Community einen Aufschrei. Darum sollen wir als Muslime uns dafür einsetzen, dass solche Bücher keinen Zugang mehr zu unseren Moscheen bekommen. Das ist machbar.
Sie sagen mit Ihren Aktionen, wogegen Sie sind. Aber wofür sind Sie?
Für einen modernen Islam deutscher Prägung.
Ein moderner Islam deutscher Prägung - was verstehen Sie darunter?
Der Islam hat sich im Laufe seiner Geschichte immer an die ihn umgebenden kulturellen Rahmenbedingungen angepasst. Das ist in den letzten 60 Jahren auch in Deutschland passiert. Muslime mussten und müssen jeden Tag Kompromisse eingehen. Das ist notwendig und auch gut so. Es gibt eine globale Ethik, die über jeder Religion stehen muss, auch über dem Islam. Das haben mir schon meine Eltern beigebracht. Diese Ethik spiegelt sich in vielen Verfassungen wider, auch im deutschen Grundgesetz. Wenn es ein religiöses Gebot gibt, das mit einem Gesetz oder gar dem Grundgesetz in Konflikt steht, dann muss sich das religiöse Gebot unterordnen.
Wie ist es im Jahr 2021 um die Integration von Muslimen in Deutschland bestellt?
Es ist leider schlechter geworden. Die Parallelgesellschaften sind größer und abgeschotteter, auch weil bei der Migrationspolitik Fehler gemacht werden. Wir haben seit 2015 sehr viele neue Mitbürger bekommen, die nicht richtig aufgenommen wurden, so dass viele sich in bereits bestehende Parallelgesellschaften zurückgezogen haben.
Wer ist schuld an den abgeschotteten Parallelgesellschaften?
Beide Seiten. Wir, die Migranten, müssen uns stärker öffnen. Dafür müssen wir die deutsche Sprache lernen, die deutsche Kultur kennenlernen und unsere eigene Religion in den Hintergrund stellen. Dafür erwarten wir von der Mehrheitsgesellschaft mehr Akzeptanz und Respekt. Die Politik muss dafür gute Voraussetzungen schaffen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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