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- Femizide in Atlanta
Eskalation des anti-asiatischen Rassismus
Ein achtfacher Mord in Atlanta ist nicht unpolitisch
Wer sich einmal gefragt hat, was »white supremacy« eigentlich ist, was das akademische Konzept der rassistischen weißen Vorherrschaft und deren Verkörperung durch das Handeln staatlicher Institutionen auf der einen Seite und Straßenterror auf der anderen bedeutet, der brauchte diese Woche nur nach Atlanta zu schauen. Am Dienstag ermordete dort ein weißer Mann acht Menschen in drei Spas in der größten Stadt im US-Bundesstaat Georgia. Sechs von ihnen waren asiatischstämmige Frauen.
Nach einer kurzen Fahndung wurde der mutmaßliche Täter Robert Aaron Long festgenommen – dem 21-jährigen Weißen wird nun achtfacher Mord vorgeworfen. Obwohl koreanisch-amerikanische Medien aus Atlanta schon am Mittwoch berichteten, der Täter habe im Laufe der Tat »Ich werde alle Asiaten töten« gerufen, erklärte Jay Baker, der zuständige Sprecher des Sheriffs von Cherokee County, einem Landkreis nördlich von Atlanta, der mutmaßliche Täter »habe wohl einen wirklich schlechten Tag gehabt und das ist, was er getan hat«. Ob es ein »Hassverbrechen« sei, könne man noch nicht sagen, so die Polizei.
Viele amerikanische Medien übernahmen zunächst diese Einschätzung der Ereignisse, die man bestenfalls als zurückhaltend beschreiben könnte, aber auch als Verharmlosung und institutionelle Deckung für einen weißen Täter durch mit ihm sympathisierende Teile des Sicherheitsapparates. Dass es eher Letzteres war, legen Recherchen von »Buzzfeed« und »The Daily Beast« nahe, die zeigen, dass Baker im vergangenen Jahr auf seiner Facebook-Seite für den Kauf von T-Shirts mit der Aufschrift »Covid 19 – Imported Virus from Chy-Na« geworben hatte.
Während die großen US-amerikanischen Medien vor allem die Aussagen der Polizei wiederholten, waren es südkoreanische Medien wie »Yonhap News«, die bekannt machten, dass Long auf seinem Facebook-Profil schrieb: »Alle Amerikaner müssen zurückschlagen gegen China.« Die »New York Times« hingegen titelte noch am Donnerstag nur »Ängste vor anti-asiatischen Vorurteilen«.
In vielen asiatisch-amerikanischen Communitys löste der Mordzug neue Ängste aus. Nutzer*innen auf Social Media schreiben etwa von besorgten Textnachrichten ihrer Eltern. Dazu gibt es guten Grund. Im Jahr seit Beginn der Coronavirus-Pandemie hat es laut Zählungen der Gruppe Stop AAPI Hate in den USA mindestens 3800 Fälle von anti-asiatischem Rassismus gegeben. In den meisten Fällen handelte es sich um Beleidigungen, doch in 11 Prozent der Fälle um Körperverletzung. Ein Drittel der Fälle spielte sich in Geschäften ab, ein Viertel auf der Straße, und 68 Prozent richteten sich gegen asiatische Frauen, die laut einem Forscher von Tätern auch als leichtere Opfer gesehen werden.
Bei den aktuellen Morden in Atlanta handelt es sich offenbar auch um Femizide, verschränkte sich also der anti-asiatische Rassismus des mutmaßlichen Täters mit seinem Frauenhass. Er hatte in der Vergangenheit Spas besucht – in einigen werden neben Massagen auch sexuelle Dienstleistungen angeboten – und erklärte gegenüber der Polizei, er habe eine »sexuelle Sucht« und habe mit den Erschießungen seine »Versuchung« stoppen wollen.
Die Journalistin Minh-Ha T. Pham erklärte es so: »Er hatte sexualisierte Fantasien, asiatische Frauen zu dominieren, mit anderen Worten Fantasien von white supremacy, und er hat danach gehandelt. Sprechen wir es aus.«
Auf Twitter verwiesen viele Nutzer auch auf die lange Tradition von anti-asiatischem Rassismus in den USA, der von gesetzlicher Diskriminierung und Segregation von Gastarbeitern während des Eisenbahnbaus im 19. Jahrhundert bis zu den Internierungslagern für japanischstämmige Amerikaner im Zweiten Weltkrieg reicht – und darauf, welche nachhaltigen Folgen Straßenterror hatte.
Im Jahr 1900 waren etwa 15 Prozent der Bevölkerung im nördlichen US-Bundesstaat Montana asiatischstämmig. Laut örtlichen Zeitungen gab es im anschließenden Jahrzehnt acht Fälle von Lynchjustiz oder rassistischen Unruhen. Heute sind nur 0,9 Prozent der Einwohner asiatischstämmig. Paul Kim ist einer von ihnen und schreibt: »Montana ist nicht zufällig so geworden, die Weißenvorherrschaft wurde absichtlich in einem langem Prozess mit Gewalt durchgesetzt.«
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