Stückwerk oder Verheißung

Der Rat der Pariser Kommune und seine Dekrete

  • Florian Grams
  • Lesedauer: 6 Min.

In Erwägung, daß wir der Regierung/ Was sie immer auch verspricht, nicht traun/ Haben wir beschlossen, unter eigner Führung/ Uns nunmehr ein gutes Leben aufzubaun.« Als Bertolt Brecht 1949 sein Theaterstück über die Pariser Kommune schrieb, waren die historischen Erfahrungen des Jahres 1871 nur vordergründig von Belang. Vielmehr ging es ihm um den Entwurf eines sozialistischen Entwicklungsweges, der im Osten Deutschlands 1949 möglich schien. Die Pariser Kommune war für den Dramatiker kaum mehr als eine Folie für dieses Modell. Dennoch hielt Brecht sich bei der Gestaltung der historischen Ereignisse eng an die Fakten der Pariser Geschehnisse. So steht das berühmte Lied »Resolution der Kommunarden« in diesem Stück exakt an der Stelle, an der die Revolutionärinnen und Revolutionäre in Paris die Wahl des Rates der Kommune beschließen. Die Resolution, in der es heißt, dass die Pariser Revolutionäre beschlossen haben, »nunmehr schlechtes Leben/ Mehr zu fürchten als den Tod«, folgt dem Aufbau der Dekrete des Rates der Pariser Kommune.

Für Brecht mag im Aufbau politischer Beschlüsse vor allem die notwendige Transparenz von Herrschaft im Namen einer sozialistischen Ordnung zum Ausdruck gekommen sein. Doch inwieweit trifft dies auf die praktische Politik der Kommunardinnen und Kommunarden zu, inwieweit stimmt das Bild einer von den Regierten direkt kontrollierten Staatsmacht mit der historischen Wirklichkeit der Pariser Kommune überein? Zu diesem Zweck soll hier die Tätigkeit des Rates der Kommune dargestellt werden, der aus den Wahlen am 26. März 1871 hervorgegangen ist. Er konstituierte sich am 28. März 1871 und war ein Gremium, in dem neben einigen Liberalen kleinbürgerliche Radikale und sozialistische Revolutionäre vertreten waren.

Die Pariser Kommune und die DDR

In der DDR war sie Schulstoff. Auf Plakaten, Gemälden, Briefmarken, in Museen und Ausstellungen wurde an sie erinnert, auf der Bühne und im Film. Die Inszenierung von Brechts »Die Tage der Commune« durch Manfred Wekwerth und Joachim Tenschert am Berliner Ensemble wurde dank des Deutschen Fernsehfunks einem Millionenpublikum bekannt. Dass die DDR, obwohl sie soziale Ziele der Kommunarden aufgriff und realisierte, nicht deren Ansprüchen genügt haben dürfte, ist nicht zu bestreiten. Und das wussten auch die Marx-Engels-Forscher und Revolutionshistoriker der DDR, darunter der international renommierte Leipziger Wissenschaftler Manfred Kossok, der in seinem opulenten Werk »In Tyrannos« schrieb: »Das Jahr 1871 setzte für die Geschichte der Revolution eine tiefe Zäsur. Zum ersten Mal wurden die Grenzmarken bürgerlichen Umwälzung überschritten, es zeichneten sich die Konturen eines neuen, des proletarischen Revolutionstyps ab.« ves

Grundlegende soziale Veränderungen

Eine umfassende Würdigung des Wirkens des Kommune-Rates darf die begrenzte Zeit nicht übersehen, die ihm zur Verfügung stand. Er existierte vom 28. März bis zum 25. Mai 1871. Angesichts der militärischen Offensive der Versailler Truppen seit Anfang April übertrug er am 1. Mai einen Großteil seiner Kompetenzen einem sehr viel kleineren Wohlfahrtsausschuss, der kaum mehr leisten konnte, als den verzweifelten Verteidigungskampf gegen den Vormarsch der Versailler zu leiten. Für die eigentliche politische Arbeit des Rates blieben nur wenige Wochen Zeit. Gleichwohl ist nicht zu leugnen, dass der Kommunerat etliche wichtige Dekrete erlassen hat, die auf eine Verbesserung der unmittelbaren Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung und darüber hinaus auf eine grundlegende soziale Veränderung der Gesellschaft abzielten.

Unter diesen sind als wichtigste zu nennen: der rückwirkende Erlass fälliger Mieten; Einstellung des Verkaufs und Rückgabe verpfändeter Gegenstände, vor allem von Kleidern, Möbeln, Wäsche, Bettzeug, Arbeitswerkzeugen; Abschaffung des stehenden Heeres und seine Ersetzung durch allgemeine Volksbewaffnung; unentgeltliche Schulbildung; Entlohnung der Beamten zu einem durchschnittlichen Arbeiterlohn; Übergabe der von den Besitzern verlassenen Fabriken an Arbeitergenossenschaften; Beschlagnahme und Verteilung leer stehender Wohnungen; Verbot von Geldstrafen durch Arbeitgeber und von Abzügen bei Löhnen und Gehältern; Verbot der Nachtarbeit der Bäckergesellen und Fixierung des Brotpreises sowie die Trennung von Kirche und Staat.

Angesichts dieser Maßnahmen wird in der wissenschaftlichen Literatur immer wieder die Frage diskutiert, inwiefern die Pariser Kommune ein sozialistisches Projekt gewesen sei. Die Positionen reichen von der klaren Verneinung eines sozialistischen Gehalts der Kommune bis zur eindeutigen Aussage: »Die perspektivischen Vorstellungen der Kommunarden waren auf eine sozialistische Gesellschaft gerichtet.« Diese Auffassung setzt allerdings voraus, die Kommunarden hätten mehrheitlich ein klares politisches Programm besessen. Die Existenz eines derartigen Dokuments ist jedoch umstritten.

Der Publizist und Kommunarde Prosper Lissagaray bezeichnet die Erklärung an das französische Volk vom 19. April, auf die sich eine solche Sichtweise berufen kann, zwar als Programm und Testament der Kommune, merkt aber an, dass dieser Text nicht von einem Kommune-Mitglied, sondern von einem Journalisten verfasst und im Rat kaum diskutiert worden sei. Neben diesem Dokument verweist das vom Kommune-Rat beschlossene pädagogische Programm auf eine gesellschaftliche Zielvorstellung, die im Rat mehrheitsfähig war.

Betrachtet man, abgesehen von diesen »programmatischen« Texten, auch die Dekrete mit explizit sozialem Gehalt, so fällt auf, dass die Verbesserung der Lage der Pariser Unterschichten im Fokus der Kommune stand. Man kann es auch als Keim für eine sozialistische Entwicklung interpretieren, dass von ihren Eigentümern verlassene Fabriken in die Hände von Arbeitergenossenschaften übergeben wurden. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass das betreffende Dekret eindeutig die Möglichkeit von Entschädigungen vorsah.

Mannigfaltigkeit der Presse

Richtet man den Blick auf die aufgebauten demokratischen Strukturen, so erscheinen diese revolutionär: Alle Beamten und Abgeordneten versahen ihren Dienst zu Arbeiterlöhnen, waren wähl- und jederzeit absetzbar. Die ältere Kommune-Literatur berichtete, dass die Entwicklungen vom Rat und der Pariser Bevölkerung harmonisch und Hand in Hand vorangetrieben worden seien. Dieser Position widersprechen Historikerinnen und Historiker, wenn sie im Anschluss an die Schilderungen von Lissagaray von einer zunehmenden Geheimpraxis innerhalb des Kommune-Rates sprechen und feststellen, dass dadurch vor allem die politischen Clubs - die sich selbst als direkte Vertreterinnen der Basis in den Pariser Stadtteilen verstanden - an ihren Stellungnahmen gehindert wurden. Ein vergleichbarer Hinweis findet sich in der - allerdings aus einer diametral entgegengesetzten Sichtweise vorgetragenen - Kritik des britischen Historikers Robert Tombs. Er verurteilt das Verbot von kommunefeindlichen Zeitungen vom 5. Mai, indem er diesen Akt als explizit undemokratisch bewertet und den Kommunarden unterstellt: »Die Freiheit hätte bis nach dem Sieg warten müssen.« Die Kommune erscheint bei ihm als eine Ordnung, die nahezu jede Form der Opposition unterdrückte. Dagegen spricht die Einschätzung der Pariser Presselandschaft während der Kommune durch den Schweizer Anarchisten Heinrich Koechlin: »Wer heute die Zeitungen, die vom 18. März bis zum 23. Mai 1871 in Paris erschienen sind, durchblättert, ist erstaunt, eine grosse Mannigfaltigkeit der Ansichten und nicht nur eine offene, wohlwollende, sondern auch eine versteckte feindselige Kritik an den militärischen und zivilen Einrichtungen der mit dem Tode ringenden Commune zu finden.« Offenbar hat es beide Tendenzen innerhalb der Kommune gegeben: Die Kräfte, die den politischen und militärischen Feind in Versailles mit allen Mitteln schlagen wollten, und jene, die sich um keinen Preis mit dem Gegner gemeinmachen wollten und von daher jede Form der Repression gegen ihn ablehnten.

In der Tradition der Grande Revolution

Mit der Verschlechterung der militärischen Lage für die Kommune setzten sich dann mehr und mehr die zentralistischen Positionen durch, die am 1. Mai zur Gründung eines Wohlfahrtsausschusses führten. Diese Institution, die der Französischen Revolution von 1793 entlehnt war, führte zu einer zeitweisen Spaltung des Kommune-Rates. In diesem Zusammenhang erinnert Jean Bruhat (dessen Buch über die Kommune 1971 im Deutschen Verlag der Wissenschaften erschien) an die Verwurzelung vieler Kommunarden in den Traditionen der Französischen Revolution. Deren Interesse an einem zentralistischen Wohlfahrtsausschuss war aber auch der Tatsache geschuldet, dass sich mit der desolaten militärischen Lage auch die Situation in der Stadt und in der Verwaltung mehr und mehr zugespitzt hatte - und kann auch als Hoffnung interpretiert werden, »durch Zentralisierung dem Chaos abhelfen zu können«.

Letztlich ist zu konstatieren, dass sämtliche programmatischen und politischen Akte der Kommune von den besonderen Bedingungen des Krieges und der Belagerung geprägt waren, also mehr durch die täglichen Zwänge als durch Zielvorstellungen oder gar Weltanschauungen. Deshalb konnte die Revolutionierung des kommunalen Staatswesens kaum mehr sein »als Stückwerk oder Verheißung für die Zukunft«.

Von Florian Grams erschien dieser Tage in bereits dritter Auflage »Die Pariser Kommune« (PapyRossa, 127 S., br., 9,90 €).

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