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Libyens Revolutionäre: gerettet und vergessen
Vor zehn Jahren griff eine internationale Koalition aufseiten der Aufständischen in den libyschen Bürgerkrieg ein. Frieden brachte sie nicht
In der Nacht auf den 19. März 2011 konnte Wael Alushaibi wie fast alle in Libyens zweitgrößter Stadt kaum schlafen. Am Abend hatten die Radiostationen von einer mehrere Kilometer langen Militärkolonne berichtet, die am nächsten Morgen den Westen Bengasis erreichen würde. Langzeitherrscher Muammar Al-Gaddafi wollte offenbar den rebellischen Osten Libyens mit Waffengewalt wieder unter Kontrolle bringen.
Vier Wochen zuvor, am 17. Februar, war den unbewaffneten Demonstranten mit dem Mut der Verzweiflung das Unvollstellbare gelungen. Die Funktionäre aus Tripolis und Gaddafis lokaler Geheimdienst waren nach kurzen, aber blutigen Auseinandersetzungen vor den Massen aus Bengasi geflohen. Die Luftwaffe und die Spezialeinheiten der Armee schlossen sich den Revolutionären innerhalb weniger Stunden an. Mit seinem Schießbefehl auf die für mehr Meinungsfreiheit protestierenden Bürger hatte der bereits 42 Jahre regierende Gaddafi bereits in den Februartagen viele seiner Anhänger gegen sich aufgebracht. Nun war Bengasi, wo der König Senoussi 1947 das freie Libyen ausgerufen hatte, in der Hand der Bürger. »Es folgten vier Wochen, in denen sich Bengasi selbst organisierte. Eine Mischung aus Euphorie und Angst vor der Rache des unberechenbaren Verrückten lag über der Stadt«, so Alushaibi, der heute für das libysche Parlament in Tobruk arbeitet.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
In den frühen Morgenstunden des 19. März hörte der 43-Jährige abwechselnd den Einschlag der Raketen und das Stakkato der Radiomeldungen, die über eine kilometerlange Militärkolonne berichteten auf dem Weg Richtung Libyens zweitgrößter Stadt. Weil seine Mutter nicht fliehen wollte, blieb er mit seiner Familie, während viele Nachbarn mit vollgepackten Autos sich noch in der Dämmerung in Sicherheit brachten. Der Absturz einer brennenden Mig 21 am westlichen Stadtrand hat er noch heute fast täglich vor Augen. Der Pilot Mohamed Mbarak Al-Okaili in seiner Mig 23 versuchte wie viele seiner Kollegen, die bereits in die Stadt eingedrungenen Panzer Gaddafis zu stoppen. Doch die von Gaddafis Sohn Moatassam kommandierte Truppe hatte moderne Luftabwehrraketen mitgebracht. Abgeschossen wurde die Mig aber wohl von Rebellen.
Propagandakrieg der Revolutionäre
Wael Alushaibi hörte und sah die französischen Mirage-Kampfflugzeuge nicht, die bereits über der schnurgeraden Schnellstraße zwischen Ajdabia und Bengasi flogen, als der UN-Sicherheitsrat in New York noch debattierte. »Aber am Mittag, nach einem Kampf zwischen leicht bewaffneten Aufständischen und den meist aus westlibyschen Kleinstädten kommenden Soldaten Gaddafis, war es plötzlich still«, erinnert er sich. In den sozialen Medien hatte das in der ehemaligen Geheimdienstzentrale eingerichtete Medienzentrum der Revolutionäre bereits den Propagandakrieg für sich entschieden. Wie zur italienischen Kolonialzeit, als die Besatzer mit westlibyschen Hilfskräften die Cyreneika-Provinz angriffen und 70 Prozent der Bevölkerung in Konzentrationslager steckten, rückten nun alle, ob Gaddafi-Gegner oder -Anhänger, zusammen gegen die Kriegserklärung aus der ungeliebten Hauptstadt.
Mithilfe von Islamisten und aus dem Gefängnis geflohenen Kriminellen zog die heterogene revolutionäre Bewegung in den Folgemonaten immer weiter nach Tripolis. Die französischen Mirage-Kampfflugzeuge verhalfen den chaotisch organisierten und schlecht bewaffneten Bürgermilizen bei ihrem Vormarsch oft aus der Patsche: ein eindeutiger und von der russischen Regierung immer wieder kritisierter Verstoß gegen die UN-Resolution 1973, denn diese erlaubte der Anti-Gaddafi-Allianz militärische Mittel nur zum Schutz der Zivilbevölkerung.
Der Zahnarzt Mohamed Kaplan erlebte die Märztage mit der Kamera in der Hand. Wie viele junge Leute war er innerhalb weniger Tage zu einem Aktivisten geworden. Seine Aufnahmen der zahlreichen nach dem 17. Februar entstandenen Bürgerinitiativen und der Kämpfe am 19. März schnitt er in dem von Feuer verrußten Medienzentrum und schickte sie per Facebook in die ganze Welt.
»Damals war Bengasi das Symbol für bürgerliches Engagement. Doch von den unterschiedlichen Strömungen unter uns Revolutionären haben sich schnell die radikalen Islamisten durchgesetzt. Als sie ein Jahr später die Scharia in Bengasi durchsetzen wollten, konnte ich mich wie zu Gaddafis Zeiten mit meiner Videokamera auf der Straße nicht mehr blicken lassen.«
Militärintervention auf der Grundlage von Lügen. Professor Youssef Sawani bewertet den Militäreinsatz in Libyen durch Nato-Streitkräfte vor dem Hintergrund der heute vorliegenden Fakten
Altstadt in Schutt und Asche
Kaplan erfüllte sich dennoch einen Jugendtraum und brachte zusammen mit seiner Frau ein Comicmagazin für Kinder heraus. »Die Hetze und Propaganda der letzten Jahre hat mittlerweile auch die Familien erreicht«, sagt er besorgt. »70 Prozent der Libyer sind unter 30 Jahre alt, wir müssen sie mit Büchern und Bildung zu friedlichen Bürgern erziehen, wenn Libyen nicht zu einem Somalia mit fünf Sternen werden soll.« Bei den dreijährigen Häuserkämpfen (2014-2017) zwischen den Radikalen von Ansar Al-Scharia und anderen Islamisten und Khalifa Haftars libyscher Armee wurde die gesamte Altstadt in Schutt und Asche gelegt. Als Kaplan im letzten Jahr das erste Mal nach der Vertreibung der Radikalen durch die von Trümmern übersäten Gassen der Medina geht, ist er geschockt. Den Aufstand gegen Gaddafi bereut er dennoch nicht, genauso wie Wael Alushaibi, der nicht versteht, warum Europa Bengasi nach dem März 2011 sich selbst überlassen hat. »Hätte man uns gegen die Radikalen genauso unterstützt wie am 19. März gegen Gaddafi hätten wir jetzt vielleicht weniger neue Gaddafis.«
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