Vergangenheit mit Zukunft

Was bedeutet die Pariser Kommune für heute? Wir sollten uns an ihre Losung »Luxus für alle« erinnern, sagt Kristin Ross.

  • Iris Dankemeyer
  • Lesedauer: 6 Min.

Linke Geschichte zu erinnern, heißt immer auch: eine Bresche in die Jetztzeit schlagen. In einer Rede, die der 1834 geborene britische Sozialist William Morris zur Erinnerung an den Pariser Aufstand vom 18. März 1871 hielt, sagte er, die Pariser Kommune sei für jeden Sozialisten nicht nur ein alljährlicher Anlass, sondern eine Pflicht zu »ausgelassenem und geistvollem Feiern gegen den dumpfen Abgrund aus Lügen, scheinheiligen Unterschlagungen und Fehlschlüssen, den man bürgerliche Geschichtsschreibung nennt.«

Das gilt bis zum heutigen Tage: Die Literaturwissenschaftlerin Kristin Ross feiert in ihrem Buch »Luxus für alle: Die politische Gedankenwelt der Pariser Kommune« die Kommune als frei improvisierte Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens nach Prinzipien der Assoziation und Kooperation. Diese Pflichtlektüre für alle Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft liegt nun 150 Jahre nach den Tagen der unabhängigen Kommune in fließender deutscher Übersetzung vor. Sie verteidigt sie sowohl gegen Einordnung in die staatskommunistische Erzählung als auch gegen die Vereinnahmung durch die national-republikanische Interpretation. Die Kommune sei weder als gescheiterte Vorläuferin der Oktoberrevolution zu sehen, noch in die französische Historiographie der dritten Republik zu integrieren.

Doch wie kann der Tigersprung in die Gegenwart gelingen? Ross berichtet nicht aus der Distanz späterer Analysen, aus denen dann abstrakte Lehren der Geschichte gezogen werden, sondern lässt historische Stimmen sprechen und deren Erfahrungen wieder lebendig werden - eine Vergegenwärtigung des revolutionären Begehrens. Die Kommune beginnt nicht erst am 18. März mit einer spontanen Reaktion auf den Übergriff des Staates, sondern hatte sich als politische Kultur bereits zuvor ausgebildet. In den unerlaubten Versammlungen der 1860er Jahre, in Geheimgesellschaften, Debattierklubs, lokalen Komitees und losen Assoziationen sieht Ross »die Präsenz einer starken, dezentralen, revolutionären Struktur«, in der man »wie auf einem Röntgenbild bereits die Kommune erkennen kann«. Diskutiert werden vor allem die Erwerbsarbeit von Frauen und die Eigentumsfrage.

Ross zitiert die Erinnerung des Kommunarden Gustave Lefrancais daran, wie der Kunstblumenmacher und Amateurredner Louis Briosne seine Zuhörerschaft nicht mehr mit dem üblichen »Damen und Herren«, sondern als »Bürgerinnen und Bürger« ansprach. Gemeint waren damit nicht Angehörige der französischen Nation, sondern einer kommenden Weltrepublik. Zum Zeichen, dass man mit der Tradition des revolutionären Bürgertums brechen und eine neuartige Revolution entfachen wollte, wurde in den Tagen der Kommune nicht nur die Vendôme-Säule gestürzt - eine Siegessäule aus den Tagen Napoleons -, sondern auch eine Guillotine auf der Place Voltaire verbrannt. Eine der größten und wirkungsvollsten Organisationen war die »Union der Frauen für die Verteidigung von Paris und die Versorgung der Verwundeten«, bei der auch Männer zugelassen waren. Ross betont, dass die umstürzlerische »Union« keinerlei Forderungen nach politischen Rechten und parlamentarischer Vertretung stellte. Mit der Kommune war kein Staat zu machen.

Für berühmte Vordenker der Kommune wie Pierre-Joseph Proudhon und Louis-Auguste Blanqui interessiert sich Ross weitaus weniger als beispielsweise für den Tuchmaler Eugene Pottier, den Schuhmacher Gustave Gaillard und die Vorstellungswelt, die in der Erfahrung der Kommune selbst entstand. Gaillard begriff seine Latexstiefel als Bildhauerei und die höchste von ihm errichtete Barrikade als Kunstwerk. Pottier hatte in einem Künstlermanifest die »Herstellung eines gemeinschaftlichen Luxus« gefordert. Der Begriff Künstler sollte auf Handwerker und die Kunst auf die Gestaltung des Alltagslebens ausgeweitet werden. Ross zufolge war »Pottiers strategische Entscheidung für die Worte luxe communal« explizit gegen die Versailler Propaganda gerichtet, wonach »Teilen immer nur Teilen von Elend« bedeutete.

Was bedeutete der gemeinschaftliche Luxus in der Kommune? Zunächst erstmalige Einführung der Schulpflicht, Umgestaltung des Schulwesens, kostenloser und weltlicher Unterricht, polytechnische und integrale Bildung. Es entwickelten sich Vorstellungen von zwangloser Produktivität und leidenschaftlicher Tätigkeit jenseits der Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit. Auch Ross’ Wahl der Zauberformel »luxe communal« ist strategisch. Ihr Projekt zielt darauf, die Kommune nicht mit Verzweiflung und vergangener Gewalt zu assoziieren, sondern mit Hoffnung und möglichem Glück. Entgegen der Überlieferung, die Kommune sei gescheitert und vergangen, behauptet Ross das Gegenteil: Die Kommune ist gewissermaßen gelungen und hochaktuell in Fragen des antikolonialen Internationalismus, der Bildung, der Kunst und sogar der Ökologie.

Ross weitet den Begriff des »luxe communal« aus, indem sie ihn an die Gedanken von Pjotr Kropotkin und William Morris anschließt. Sehr luxuriös klingt es zunächst nicht, wenn Kropotkin in der finnischen Einöde die Einfachheit des Lebens und die Absenz »ungesunder Luxusgewohnheiten« lobt oder Morris im unwirtlichen Island feststellt, dass die Armut von Fischern und Kleinbauern zwar bedrückend, aber immerhin klassenlos sei. Morris ist vor allem als Gründer des englischen »Arts and Crafts Movement« und für ornamental-florale Tapetenmuster bekannt, weniger jedoch als der bekennende Kommunist, der er war. Er verbindet den Gedanken des »luxe communal« mit seiner ureigenen, mittelalterbegeisterten und mythenverliebten Lebensansicht.

So überliest Ross arglos, wenn Morris schreibt, Reichtum sei alles, »was dem Genuss von Menschen dient, die frei, mannhaft und unverfälscht sind« und verzeiht ihm, dass er Großstädte offenbar für abschaffenswert hält. Antimodernistische und essenzialistische Einstellungen sieht Ross vor lauter Begeisterung für lebendige Interessen und wirkliche Bedürfnissen nicht. Morris’ Visionen sind auf den Rahmen der Dorfgemeinde begrenzt, und auch Ross scheint diese Größenordnung zu bevorzugen: Selbst Karl Marx wird von ihr wendungsreich zum Kronzeugen für den überschaubaren Vorbildcharakter vorkapitalistischer Gesellschaften verdreht. Mit der Kommune hat die Begeisterung für ein einfaches und natürliches Leben allerdings nichts zu tun - Paris war kein Dorf, sondern die Hauptstadt der Revolution.

Nach Marx sollte die freie Assoziation kein Ideal, sondern eine wirkliche Bewegung sein. Für Ross rangieren die konkreten Erfahrungen höher als alle abstrakten Worte: Die Kommune sei für den Freiheitsbegriff wichtiger als die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Menschenrechte, »weil sie konkret war. Aus diesem Grund sah Marx die größte soziale Errungenschaft der Kommune in nicht mehr und nicht weniger als ihrem ‚eignen arbeitenden Dasein’ - mit anderen Worten in der schlichten Tatsache, dass es sie gegeben hatte, mitsamt all ihren Grenzen und Widersprüchen.« Die Kommune hat ihre Ideale eben nicht nur proklamiert, sondern verwirklicht.

Im exilierten Kommunarden Elisée Reclus findet Ross einen frühen Vertreter des anarchistischen Kommunismus und mit ihm den heimlichen Fluchtpunkt ihrer Lektüre - Solidarität als wahrer Luxus. Im Gegensatz zu Morris’ ästhetischer »Gemeinschaft« und Kropotkins »gegenseitiger Hilfe« denkt Reclus gesellschaftliche Solidarität explizit und notwendig mit persönlicher Autonomie zusammen: »Solidarität wächst durch Freiheit.« Damit kehrt »Luxus für alle« an den Ausgangspunkt zurück - zu faszinierenden Figuren wie Louise Michel, Elisabeth Dmitrieff, Leo Frankel, Joseph Jacotot, André Léo, Benoit Malon und allen anderen, die in Ross’ Buch zu Wort kommen und es lesenswert machen.

Die politische Kultur der Kommune verspricht andere Formen von Reichtum und Selbstorganisation als die armselige Abhängigkeit, die sich heute hinter Schlagwörtern wie »new luxury«, »sharing economy« und »work-life-balance« verbirgt. Ross strategisches Stichwort vom »luxe communal« ist nicht folgenlos geblieben, sondern hat andere inspiriert. Die Flugschrift »Umrisse der Weltcommune« bezieht sich ausdrücklich auf den »luxe communal« als Leitmotiv für eine zukünftige Gesellschaft und diskutiert dabei auch von Ross vernachlässigte Fragen wie die nach den Potenzialen digitaler Technologien oder der Neuorganisation der Arbeitsteilung der Geschlechter. Linkes Erinnern ist kein Wiederholen, sondern ein Weitertreiben. Und »Luxus für alle« dürfte auch für künftige Kämpfe die richtige Parole sein.

Kristin Ross: Luxus für alle: Die politische Gedankenwelt der Pariser Kommune. Übersetzt von Felix Kurz. Matthes & Seitz Berlin, 203 S., geb., 20 €.

Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft: Klasse, Krise, Weltcommune. Beiträge zur Selbstabschaffung des Proletariats. Edition Nautilus, 160 S., br., 16 €.

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