Von Sachen und Wörtern
Leseproben-Beilage vom 20. März 2021
Ein Gespenst geht um in Europa - nein, nein, nicht das altbekannte mit Hammer und Sichel und Rauschebart, es ist das Gespenst des Genderismus oder Gendergaga, wie seine eifrigsten Gegner und Gegnerinnen es liebevoll nennen. Es klappert mit Sternchen und Unterstrichen und heult in den Wind, dass Frauen mehr als einen sicheren Platz am Putzlappen und die volle Palette an Selbstoptimierungswerkzeugen haben wollen. Die halbe Welt muss es mindestens sein, bei vollem Lohnanspruch. Und all die LGBTI-Quälgeister dazu, die sich nicht länger verstecken, verdrucksen, entschuldigen, verspotten und für unnormal verkaufen lassen wollen. Da kann einem schon der Kopf schwirren vor so viel Unordnung in der gottgewollten Ordnung. Selbst gestandenen Jungpionieren a. D. oder klassenkampfgestählten APO-Veteranen.
Doch halt, wie war das noch mal mit der »freien Assoziation aller«, von der die Rauschebärte Marx und Bakunin sprachen? Hatten Clara Zetkin und Genossinnen sich in Nebenwidersprüchen verheddert, als sie das Wahlrecht, freie Berufswahl und Schutzrechte für Frauen forderten? War Alexandra Kollontai, die weltweit erste Frau auf einem Minister- und Diplomatenposten zu forsch, als sie verbesserten Mutterschutz, das Recht auf Abtreibung und die Entkriminalisierung Homosexueller in Russland durchsetzte? Muss erst mal der Kapitalismus in die Knie gezwungen werden, bevor man (hier mit heterosexueller Gefühls- und Geistesausstattung) sich dem Glücks- und Gleichberechtigungsanspruch der anderen Geschlechter zuwendet.
Die Frage ist in etwa so müßig wie die Annahme, dass der geschirrspülende Mann durch Ausübung dieser unmännlichen Tätigkeit an revolutionärem Elan verliere. Verfolgt man (hier als grammatikalisches Maskulinum) die Debatten zur gendergerechten Schreibung und Aussprache - auch in dieser Zeitung -, könnte man meinen, der seit der Antike geführte Streit um die ontologische Existenz der Begriffe hätte sich aus der spätmittelalterlichen Scholastik in unsere Zeit gebeamt und müsse mittelalterlich brachial mit Streitkolben und Bihändern ausgefochten werden. Der interessierte Beobachter wird sicher Wetten darauf abschließen wollen, ob das Abendland durch Sternchen in den Abgrund gestürzt wird oder die Verhältnisse, so mies sie sind, durch schönere Bezeichnungen gleichfalls schöner und menschenfreundlicher werden. Diogenes und Krates hätten in der Debatte vermutlich zu mehr Gelassenheit geraten und Sappho leicht die Augenbraue gehoben.
Zum Schöner-Diskutieren mit Argumenten, Wägungen und Logikketten gehört unbedingt Synapsenfutter; und deshalb haben wir auf den folgenden Seiten etliche Sachbücher zusammengestellt, die Sie die eine oder andere bekannte Sache in einem neuen Licht sehen oder gänzlich Neues entdecken lassen. In scheinbar banalen Gewissheiten stecken oft Rätsel, und manch lieb gewordene Denkfigur darf auch in den Ruhestand verabschiedet werden.
Die große und die kleine Welt gehören, wie in Faust II, zusammengedacht; Veränderungen sind die Vielzahl kleiner und großer Schritte, und gelegentlich darf man sich auch mal verlaufen. Das ist nicht tragisch, wenn man bereit ist, der eigenen Eitelkeit einen kleinen Schubs zu geben und aus den eigenen Fehlern und denen der anderen zu lernen. Wissenschaft ist Irrtum und die fortwährende Korrektur des Irrtums, die wiederum in neue Irrtümer führen kann. Arbeit übrigens auch. Privatleben ebenso.
Wichtig ist, dass man sich diese kynische Gelassenheit bewahrt, auch eine Portion Ironie und Selbstironie, wie Gunnar Decker vor ein paar Tagen in dieser Zeitung gut zu begründen wusste. Denn es könnte sein, dass der Gegner im Disput nicht gänzlich falsch liegt. Im Besitz der allein selig machenden Wahrheiten sind nur Götter und Despoten. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine angenehme Wochenendlektüre. Mario Pschera
Wir stellen Bücher aus unabhängigen Verlagen vor
In dieser Ausgabe:
- Jannis Milios: Eine zufällige Begegnung in Venedig. Die Entstehung des Kapitalismus als Gesellschaftssystem
- Detlef Hartmann und Christopher Wimmer: Die Kommunen vor der Kommune 1870/71. Lyon - Le Creusot - Marseille - Paris
- Oliver Gaida und Susanne Kitschun (Hg.): Die Revolution 1918 /19 und der Friedhof der Märzgefallenen
- Joyce Lussu: Weite Wege in die Freiheit. Erinnerungen an die Resistenza
- Terje Tvedt: Der Nil. Fluss der Geschichte
- Susanne Oesterreich: Requisit moderner Weiblichkeit. Die Frauenhose in der BRD und DDR (1949 - 1974)
- Oliwia Hälterlein: Das Jungfernhäutchen gibt es nicht. Ein breitbeiniges Heft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.