Den Algorithmus überwinden

In Italien streiken Amazon-Beschäftigte gegen Ausbeutung und Arbeitsdruck

  • Anna Maldini, Rom
  • Lesedauer: 4 Min.

Rund 9500 Beschäftigte hat der US-Konzern Amazon in Italien, nach Gewerkschaftsangaben könnten es mit allen Fahrern zusammen aber bis zu 40 000 Mitarbeiter sein. Nach Angaben der Gewerkschaften CGIL, CISL und UIL beteiligten sich »im Schnitt 75 Prozent, in einigen Gebieten 90 Prozent« der Belegschaft an dem Ausstand. Amazon spricht dagegen von zehn Prozent Beteiligung. Für 24 Stunden legten sowohl die Festangestellten wie die Lieferboten des Konzerns die Arbeit nieder. Sie fordern bessere Arbeitsbedingungen und ein menschenwürdigeres Betriebsklima.

Eine von ihnen ist Francesca Gemma. Die 30-Jährige lebt in der Gegend von Rom und arbeitet seit 2017 im Logistikzentrum von Amazon in Passo Corese. Sie ist fest angestellt, hat eine Fünf-Tage-Woche, 40 Stunden, verteilt auf drei Schichten, und verdient 1300 Euro im Monat. »Wenn es nach mir ginge«, sagt sie, »würde ich sofort zwei Dinge ändern: die Schichten und die Monotonie der Arbeitsvorgänge.« Wie viele andere Arbeitnehmer klagt auch sie über körperliche Schmerzen und psychische Belastung. Francesca Gemma arbeitet im sogenannten Picking, das heißt, sie nimmt die Pakete in Empfang und leitet sie weiter. »Acht Stunden am Stück führe ich die gleichen Bewegungen aus und das in einer Art Metallkäfig. Nach ein paar Tagen Schmerzen erst die Arme, dann der Rücken und schließlich auch die Knie.« Die Schmerzen seien genauso standardisiert wie die Arbeitsabläufe: »Am dritten Tag kann man kaum noch laufen, weil einem die Beine so weh tun. Nach einem Monat sind die Sehnen am Handgelenk entzündet. Ab und zu wird auch jemand ohnmächtig.« Dann lacht sie bitter: »Aber wenigstens wirst du nicht ausgepeitscht, wenn du dein Soll nicht erfüllst ...«

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Ihr Kollege Giampaolo Meloni, der 500 Kilometer entfernt in der Lombardei arbeitet, sieht das nicht anders. Er holt die Pakete aus dem gesamten Lager: »Ich lege jeden Tag mindestens 20 Kilometer zurück«, sagt er. Aber vor allem beklagt er sich über die Arbeitsorganisation: »Das System basiert auf einem Algorithmus, der die Zeiten genau festlegt. Die Abteilungsleiter wollen nur die richtigen Zahlen sehen und scheren sich einen Dreck darum, wie die erreicht werden.«

In Brandizzo bei Verona haben die Paketboten gestreikt. »Unser Arbeitspensum ist faktisch nicht zu schaffen«, sagt Luigi Bergonzi. »Wir müssen im Durchschnitt 170 Pakete innerhalb von knapp acht Stunden austragen. Die Zeiten werden von einem Algorithmus diktiert, der unser Leben gefährdet, weil wir uns nicht an die Straßenverkehrsordnung halten können. Die Knöllchen müssen wir selbst zahlen, und wenn wir den Wagen verkratzen, haben wir eine Selbstbeteiligung von 500 Euro und müssen außerdem mit einer Disziplinarstrafe rechnen.« Ganz so, wie es der Engländer Ken Loach in seinem Film »Sorry we missed you« über Paketzusteller beschrieben hat ...

Amazon bestreitet in einem Brief an die Kunden alle Vorwürfe und erklärt, dass man die bestmöglichste Arbeitsorganisation habe, das Wohl der Arbeitnehmer an erster Stelle stehe und man ihnen »ein sicheres und modernes Arbeitsumfeld« biete: »gute Löhne, Zusatzzahlungen und hervorragende Möglichkeiten, sich selbst zu verwirklichen«.

Die Solidarität mit den Streikenden ist derweil groß. Maurizio Landini, Generalsekretär der größten italienischen Gewerkschaft CGIL, forderte Amazon auf, sofort an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Luigi Sbarra von der CISL erklärte: »Heute streiken die Arbeitnehmer*innen für angemessene Löhne und menschenwürdige Arbeitszeiten und gegen das Prekariat. Menschen sind keine Ware.« Die Demokratische Partei hat über ihren stellvertretenden Sekretär Beppe Provenzano wissen lassen, dass man auf der Seite der Arbeitnehmer stehe, um ihre Rechte auch »im Zeitalter des Algorithmus zu verteidigen«. Auch Rossella Accoto von der 5 Sterne Bewegung und Staatssekretärin im Arbeitsministerium erklärte, dass »ein Algorithmus keine Lösung« sei und man sich mit diesen Themen eingehend beschäftigen müsse.

Die Belegschaft von Amazon hatte die Kunden aufgefordert, sich solidarisch zu zeigen und am Tag des Streiks keine Ware zu bestellen. Wie weit diese dem Appell gefolgt sind, weiß man noch nicht. Von allen Solidaritätsbekundungen hat besonders eine alle Beschäftigten überrascht und gefreut. Sie beginnt mit den Worten »Liebe italienische Brüder und Schwestern, wir wünschen euch viel Glück« und kommt aus dem Werk in Bessemer, Alabama, wo Arbeiter gerade versuchen, zum ersten Mal einen Betriebsrat bei Amazon in den USA zu bilden.

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