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Auf halber Höhe
Seit Tag eins steht Kamala Harris nicht nur als Vizepräsidentin auf dem Prüfstand
Im Unterschied zu allen US-Vizepräsidenten vor ihr, die nur als mehr oder minder geglückte Ergänzung des Präsidenten galten, wird Kamala Harris von ihrem ersten Tag an mit anderen Augen betrachtet. Das liegt nicht allein an den zwei historischen Premieren, die sie verkörpert: die erste Frau und die erste Nichtweiße in diesem Amt. Es liegt daran, dass die frühere Strafverfolgerin, Generalstaatsanwältin und US-Senatorin des einwohnerstärksten Bundesstaats Kalifornien von Anfang an als realistische Anwärterin auf den Präsidentenstuhl selbst gesehen wird. Die wichtigsten Gründe: Kamala Harris ist mit jetzt 56 eine Generation jünger als ihr Chef und Präsident Joe Biden, der bisher älteste Amtsinhaber in den USA. Die Juristin ist gut ausgebildet und durchsetzungsstark; als Tochter einer indischen Mutter und eines afroamerikanischen Vaters aus Jamaika ist sie zudem auf familiärer Ebene eine Art Mikrokosmos der Nation. Und auch aus Sicht des Präsidenten, der um sein Alter wie um manch sonstige eigene Grenze weiß, besitzt die Frau an seiner Dienstseite Präsidentenpotenzial, das gefördert zu werden lohnt.
Vor diesem Hintergrund verdient die Veröffentlichung des persönlichen wie politischen Werdegangs von Kamala Harris größere Aufmerksamkeit, als ihn ein neu berufener x-beliebiger Stellvertreter erwarten dürfte. »Der Wahrheit verpflichtet« ist die alles in allem geglückte Kombination aus ihrer Lebensgeschichte und Lebensphilosophie. Keine Autobiografie im engeren Sinne, enthält das Buch doch so viel Aussagekräftiges über die Verfasserin, dass diese Genrebezeichnung, die der Verlag im Gegensatz zur Autorin verwendet, kein Etikettenschwindel ist.
Es macht Kamala Harris als Mensch erlebbar, der schon früh, in ihrer Geburtsheimat Kalifornien, nach Höherem strebte. Dazu trugen die Prägungen durch beide in die USA eingewanderten Elternteile und deren Erfahrungen in der Bürgerrechtsbewegung bei, aber auch die Erlebnisse, die Kamala Harris in Schule, Wohngebiet und Universität sowie an den Stationen ihrer staatsanwaltlichen Arbeit in San Francisco sammelte. Sie zeigt anhand ihrer Erfahrungen, wo in Amerikas Alltag die Säge klemmt, wo sich Anspruch und Wirklichkeit des amerikanischen Traums reiben und wo Problemursachen beziehungsweise ihre Lösung liegen könnten. Das geschieht auch bei ihr nicht frei vom Pathos des American Dream, doch konkrete Schilderung und juristische Nüchternheit fangen das Tremolo immer wieder ein.
Harris blickt auf das überteuerte und zugleich ineffektive Gesundheitssystem, auf die Geschäftemacherei von Pharmaunternehmen, die zu einer Medikamenten-Epidemie mit 350.000 Todesopfern in den letzten zwei Dekaden führte. Sie berichtet von haarsträubenden Fällen kalifornischer Familien und alleinerziehender Mütter, die hart arbeiten, ohne auf einen grünen Zweig zu kommen. Schildert Beispiele »unserer kaputten Strafjustiz«, betont die Notwendigkeit neuer Gesetze und schlussfolgert: »Daher brauchen wir mehr progressive Staatsanwälte in der Strafverfolgung, wo es die größten Probleme gibt und die besten Lösungen möglich sind. Staatsanwälte gehören zu den mächtigsten Akteuren unseres Justizsystems. Sie haben die Macht, Prioritäten zu setzen. Sie können ihre Zeit und Energie auf Fälle jedes beliebigen Themas verwenden, von Unternehmens- und Verbraucherbetrug bis zu Vergewaltigung. Sie haben die Macht, Kriminelle hinter Gitter zu bringen, aber sie haben auch die Möglichkeit, Fälle abzuweisen, in denen die Polizei unverhältnismäßige Gewalt anwendet oder ohne Anlass Durchsuchungen durchführt.«
Diese Aussagen verdeutlichen: Harris lässt Rassismus ebenso wenig durchgehen wie etwa die Forderung von Black-Lives-Matter-Aktivisten, pauschal der Polizei Mittel zu streichen. Hier zeigt sich, was von ihr in Zukunft erwartet werden kann und was eher nicht, wo sie vom linken Flügel ihrer Demokratischen Partei unterstützt oder eher angegriffen werden wird.
Jenseits des Buches, das im Original bereits 2019 erschien, während ihrer ersten Amtszeit als Senatorin für Kalifornien in Washington, lässt sich nach den ersten Monaten festhalten: Die Neue ist keine Frühstücksdirektorin im Weißen Haus. Vielmehr nimmt sie bereits, wie die »Washington Post« urteilt, »eine feste Rolle in Präsident Bidens Außenpolitik ein, wo sie ihren persönlichen Einfluss bei internen Debatten ebenso einbringt wie auf der Weltbühne, wo sie sich für Bidens diplomatische Agenda stark macht«. Harris hat eigenständig schon mit mehreren internationalen Spitzenpolitikern gesprochen. Sie war am virtuellen Gipfel mit Kanadas Premier Justin Trudeau beteiligt, trat im Außenministerium auf und war in die Entscheidung über die Militärreaktion auf den Angriff Iran-gestützter Milizen auf US-Streitkräfte in Irak eingebunden. Ihr ungewöhnlich frühes wie starkes Engagement als Vize bezeugt nicht nur Harris’ Machtwillen, sondern auch die offenkundige - und keineswegs selbstverständliche - Bereitschaft des Präsidenten, der Stellvertreterin viel Gestaltungsleine zu geben.
Joe Biden, 78, betrachtet die Arbeitsbeziehung zu seiner Stellvertreterin augenscheinlich nicht bloß durchs Prisma seines Alters. Das ließ ja schon bei Amtsantritt Überlegungen laut werden, er könne vor Ende seiner Amtszeit zugunsten seiner Stellvertreterin zur Seite treten. Doch sein Vertrauen gegenüber Harris rührt nach Aussagen von Vertrauten noch von zwei weiteren Faktoren: Zum einen wisse er, dass »Umfang und Komplexität der modernen Präsidentschaft heute ungleich breiter und tiefer« als je zuvor sind. Und zweitens begreife er, »dass die Ermächtigung anderer seinen eigenen Interessen dient und dem gesamten Regierungsteam zugutekommt«. Kamala Harris wiederum signalisiert mit ihrem Start im Weißen Haus - wie in ihrem Buch -, dass ihr Weg nicht zu Ende ist. Sie hofft, eines Tages die Präsidentschaft zu erlangen. Jetzt ist sie auf halber Höhe.
Kamala Harris: Der Wahrheit verpflichtet. Meine Geschichte. A. d. Engl. v. Jürgen Neubauer. Siedler, 334 S., geb., 22 € .
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