Bildungsforscher Helbig: Wir brauchen mehr Zeit zum Lernen

Der Bildungsforscher Marcel Helbig kritisiert das Corona-Krisenmanagement in den Schulen

Nach einem Jahr Ausnahmezustand in den Schulen gab es zuletzt erhebliche Leerstellen in den Unterrichtsplänen. Was weiß die Forschung schon über die gegenwärtigen Bildungslücken?
Es liegt ja auf der Hand, dass die Lernrückstände beträchtlich sind, aber sie sind derzeit noch nicht leicht zu erfassen. Einige Studien gibt es schon dazu, die sich mit der Situation nach dem ersten Lockdown beschäftigen. Aber noch wissen wir wenig darüber, wie sich die Defizite in den einzelnen Fächern darstellen. Hamburg hat eine Studie nach dem ersten Lockdown für die Fächer in Deutsch und Mathe präsentiert, die erstaunlicherweise nur kleine Rückstände feststellte. Eine Untersuchung aus den Niederlanden auch über die Zeit des ersten Lockdowns besagt genau das Gegenteil: dass die Bildungslücken so groß sind, als hätte es überhaupt keinen Unterricht gegeben. Die Situation ist aktuell ziemlich unklar. Wir werden es erst mit der Zeit genau wissen, wie groß die Lernrückstände sind.

Wer ist besonders vom Ausnahmezustand in den Schulen betroffen?
Das sind natürlich die ohnehin schon immer Benachteiligten, Schüler aus bildungsfernen Elternhäusern. Die werden durch das Lernen zu Hause noch mehr zurückgeworfen als ohnehin schon. Wenn im Elternhaus kein Deutsch gesprochen wird, ist das auch schwierig; dann können die Eltern nur wenig bei den Schulaufgaben unterstützen. Aber sich nur auf die Bildungsfernen zu beziehen, das wäre zu einfach, wir haben in Deutschland auch regional unterschiedliche Lernrückstände. In einigen Gegenden sind die Schulen schon überwiegend wieder im Präsenzunterricht, während sich Schulen in Landkreisen mit einer hohen Inzidenz noch im Lockdown befinden.

Marcel Helbig
Der Sozialwissenschaftler Marcel Helbig beschäftigt sich mit Fragen der sozialen Ungleichheit im Bildungssystem. Er leitet den Arbeitsbereich »Strukturen und Systeme« am Leibniz-Institut in Bamberg. Aktuell forscht er zu den Bildungslücken, die durch die Corona-Pandemie im Schulsystem entstehen.

Dann wird der Unterrichtsausfall in den Grundschulen, wo die Kinder Elementares lernen, natürlich besonders gravierend sein; die Rückstände werden noch nach Jahren zu bemerken sein. Das ist was ganz anderes als in einer gymnasialen Oberstufe. Wenn ein Elftklässler eine Interpretation von »Faust« verpasst, dann sehe ich das nicht unbedingt als großes Problem an. Wir haben also verschiedene Gruppen, die unterschiedlich unter dem Schulausfall und dem Distanzunterricht leiden.

Wie können die Schüler am besten gefördert werden?
Das grundsätzliche Problem ist zurzeit ja, dass Politik und Schulbehörden, auch wenn ihnen das gar nicht bewusst sein mag, noch immer an den Lehrplänen festhalten. Dabei gibt es seit einem Jahr den Ausnahmezustand, und objektiv betrachtet ist der normale Lernstoff nie zu erreichen. Wenn man sich das endlich eingestehen würde, dann müssten man auch nicht über Nachholen oder Aufholen von Lernstoff reden.
Die einzigen, die vielleicht nichts aufzuholen haben, sind leistungsstarke Schüler, zumeist aus privilegierten Elternhäusern, die sich mit der Situation einigermaßen arrangieren konnten. Anstatt über Nachhilfeprogramme zu debattieren, wäre es besser, darüber zu reden, wie wir allen Schülern mehr Zeit geben können, damit sie in Ruhe die Folgen des Ausnahmezustands ausgleichen können.

Wie soll das gehen?
Aktuell werden mehrere Vorschläge diskutiert, um verpasste Inhalte aufzuholen: Eine Möglichkeit wäre, den Lernstoff mit ins nächste Schuljahr zu nehmen, dann müsste der Lernplan natürlich angepasst werden, und ein paar Inhalte, die nicht ganz so wichtig sind, würden herausgenommen werden.
Manche fordern auch, das ganze Schuljahr zu wiederholen. Das wäre organisatorisch sicherlich schwierig, weil dann sofort ein doppelter Jahrgang in der Grundschule wäre. Ein solches Szenario würde das Schulsystem überfordern. Aber wenn wir das Schuljahr bis Weihnachten verlängern würden, dann wären das vier Monate mehr Zeit. Das könnte ausreichen. Interessant ist, dass der Philologenverband in Baden-Württemberg jetzt gefordert hat, zum neunjährigen Gymnasium zurückzukehren. Auch dort gibt es offenbar die Einsicht, dass wir mehr Zeit brauchen.

Wie ist die Corona-Lernhilfe nach dem Hamburger Modell zu bewerten?
Positiv ist auf jeden Fall, dass etwas unternommen wird. Viele Kinder haben durch das Coronajahr nicht nur Schwierigkeiten in der Schule, sondern auch psychosoziale Probleme. Diesen Kindern eine Unterstützung anzubieten, ist natürlich zu begrüßen. Ich sehe aber zwei Probleme bei dem Mentorenprogramm: Zum einen sind es Lehramtsstudierende, die solche Kleingruppen leiten sollen, die oft nicht wissen, auf welchem Stand die Schüler sind. Die jeweiligen Klassenlehrer beispielsweise könnten viel besser einschätzen, welche Unterstützung das Kind braucht. Zum anderen kann das Programm vielleicht in Hamburg funktionieren, ist aber in der Fläche kaum abzudecken. In Universitätsstädten ist das umsetzbar, aber nicht auf dem Land, dort gibt es nicht genügend Mentoren dafür. Folglich wird dieses Angebot, selbst wenn es bundesweit eingeführt wird, nicht allen Kindern helfen.

Ist das freiwillige Wiederholen, das beispielsweise Berlin beschlossen hat, eine Lösung?
Nein, eher nicht. Freiwillige Wiederholungen haben immer auch die negative Grundprämisse, dass es das Kind nicht geschafft hat. Zu befürchten ist außerdem, dass diese Wiederholungen nicht überall gleichermaßen in Anspruch genommen werden. Gerade in Schulen mit vielen Kindern aus bildungsfernen Schichten könnten dann relativ viele Schüler von einer Schuljahreswiederholung Gebrauch machen. Dies können diese Schulen nicht kompensieren und die Lernbedingungen für alle Schüler würden schlechter.

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