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Gefährliches Säbelrasseln im Donbass
Die Waffenruhe in der Ostukraine scheint in Gefahr. Moskau und Kiew schieben sich die Schuld zu
Lange schien die im Juli 2020 beschlossene Waffenruhe zwischen den prorussischen Separatisten und der ukrainischen Armee im ostukrainischen Donbass überraschend wirksam. Zwar gab es auch in den Monaten danach vereinzelte Verletzungen des Waffenstillstandes, doch ernsthafte Folgen blieben stets aus. Dies hat sich nun geändert. Seit Anfang 2021 sind nach Kiewer Angaben bereits mehr als ein Dutzend ukrainischer Soldaten in der Ostukraine gestorben. Spätestens seit dem 26. März spielt das Thema Donbass wieder eine wichtige Rolle in den ukrainischen Medien. An diesem Tag kamen im von Separatisten kontrollierten Gebiet vier Soldaten ums Leben, zwei weitere wurden verletzt - die größten Tagesverluste der Ukrainer seit längerem.
»Leider erleben wir seit Jahresbeginn einen deutlichen Zuwachs an Eskalation«, reagierte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. »Was wir fast ein Jahr Stück für Stück aufgebaut haben, kann binnen einer Sekunde zerstört werden.« Ruslan Chomtschak, der Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee, berichtete im Parlament über eine Verstärkung der russischen Truppen östlich, südlich und nördlich der Grenze zur Ukraine, und zwar unter dem Deckmantel von Militärübungen. Tatsächlich fanden an der russisch-ukrainischen Grenze Mitte März Manöver statt. Allerdings hätten russische Truppen nach Angaben des US-Militärs die Grenzgebiete nicht wie erwartet am 23. März verlassen. Vor einer Woche berichtete »The New York Times«, dass sich dort noch immer 4000 russische Soldaten aufhalten.
Dass sich die Lage in der Ostukraine ernsthaft verschärft, bestätigte auch der Bericht der Beobachtermission der OSZE vom 3. April. Demnach hat sich die Zahl der Verstöße gegen die Waffenruhe um die selbst ernannte Volksrepublik Luhansk verzehnfacht, eine ähnliche Entwicklung ist auch in der Volksrepublik Donezk zu beobachten. Moskau und die Separatisten halten diesbezüglich vor allem Kiew für schuldig. »Die Realität an der Kontaktlinie im Donbass ist für uns sehr beängstigend«, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. »Provokationen seitens der ukrainischen Streitkräfte finden statt. Und diese sind leider nicht vereinzelt, sondern zahlreich.« Denis Puschilin, Chef der Volksrepublik Donezk, warnte sogar offen vor einem ukrainischen Angriff: »Die Ukraine verfügt über die nötigen Fähigkeiten. Sie sind bereit. Die Frage ist, ob der entscheidende Befehl erteilt wird.«
Am 3. April vermeldete die Volksrepublik Donezk zudem den Tod eines vierjährigen Kindes am Stadtrand von Donezk, das angeblich bei einem Drohnenangriff ums Leben kam. Die Tragödie wird seitdem ständig von den Separatisten und dem russischen Staatsfernsehen emotional aufgegriffen. »Die russische Seite hat keine Beweise geliefert: Es gibt keine Fotos, Videos, Fragmente eines Sprengsatzes oder genaue Koordinaten und Zeitpunkt des Ereignisses«, bestreitet die ukrainische Delegation bei den Minsker Verhandlungen die Vorwürfe. »Zudem ist der Ort weit von der Kontaktlinie entfernt. Die Drohne hätte also gar nicht eingesetzt werden können.«
Die Nato äußerte angesichts der zunehmenden Spannungen »ernsthafte Sorge«. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg kritisierte am Dienstag auf Twitter »Russlands Militäraktivitäten in und um die Ukraine« sowie »anhaltende Verletzungen des Waffenstillstands«. Nach einem Telefonat mit dem ukrainischen Präsidenten sicherte er zu, die Nato unterstütze »entschieden die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine«. Ein militärisches Eingreifen des Bündnisses in den Konflikt mit Russland gilt allerdings als ausgeschlossen.
Auch ein direkter russischer Einmarsch in die Ukraine oder ein Angriff von Kiew im Separatistengebiet erscheinen derzeit unwahrscheinlich. Trotzdem bleibt die aktuelle Eskalation mit Blick auf die kommenden Wochen besorgniserregend. Unter Selenskyj setzte die Ukraine in den vergangenen Monaten wichtige Schritte gegen Russland um, die selbst unter seinem Vorgänger undenkbar gewesen wären. So verhängte Kiew unter anderem Sanktionen gegen Wiktor Medwedtschuk, einen engen Freund des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Außerdem ließ Selenskyj drei prorussische Nachrichtensender abschalten.
Dass Russland darauf reagiert, war zu erwarten. Allerdings sind Moskau aufgrund der finalen Bauphase der Pipeline Nord Stream 2 aktuell die Hände gebunden. Dennoch zeigt der Kreml seine Zähne. Zudem ist es ein offenes Geheimnis, dass Russland das grundsätzliche Ziel verfolgt, die umkämpften Gebiete im Rahmen einer erweiterten Autonomie an die Ukraine zurückzugeben, um weiterhin Einfluss auf die Region auszuüben, aber nicht für die beiden Volksrepubliken bezahlen zu müssen. Deswegen besteht Russland auf der wortwörtlichen Erfüllung des Minsker Abkommens, welches für Kiew ungünstig formuliert ist und im schlimmsten Fall zur Legitimierung der heutigen Separatistenstrukturen im Rahmen des ukrainischen Staates führen könnte. Neue Spannungen könnten wiederum für neue Spielräume bei den Verhandlungen sorgen, die mit Blick auf das große Bild seit Jahren in einer Sackgasse stecken.
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