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»Dann gründen wir eben eine neue Universität!«
Die Off-University gibt Menschen, die in ihrer Lehre gefährdet sind, einen Raum. Ein Gespräch mit der Sozialwissenschaftlerin Tuba İnal Çekiç über institutionelle Unabhängigkeit
Was sind Ihre Erfahrungen als »Akademiker*in für den Frieden«?
Ich bin 2016 nach einigen politischen Unruhen nach Deutschland gezogen und arbeite im Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität. Als ich von der Technischen Universität Yildiz in Istanbul verbannt wurde, war ich schon in Deutschland für mein Sabbatjahr. Einerseits war das Glück, weil ich bereits an der Humboldt-Universität gearbeitet habe und einige Kolleg*innen in der Türkei festsitzen. Andererseits auch Pech, weil ich seitdem nicht die Möglichkeit hatte, in mein Land zurückzukehren, weil ich bis vor Kurzem keinen gültigen Pass hatte.Damals haben einige Kolleg*innen, die hier waren, darunter auch Deutsche, die Friedenspetition unterschrieben, und plötzlich konnten wir nicht mehr reisen, wir konnten unsere Student*innen nicht mehr treffen, unsere Kolleg*innen saßen im Land fest, und wir konnten nicht länger Forschung oder Kooperationen mit ihnen betreiben.
Akademiker*innen die unter autoritären Regierungen lehren und studieren, stehen weltweit unter Druck, und viele Studierende haben keinen Zugang zu kritischer Lehre. Ein Paradebeispiel hierfür ist die Entlassung Tausender Akademiker*innen an türkischen Universitäten. Weil sie 2016 eine Petition für eine Friedenslösung im Konflikt mit der kurdischen Bevölkerung unterzeichnet haben, werden die »Akademiker*innen für den Frieden« von der Regierung als Unterstützer des Terrorismus bezeichnet. Sie wurden aus dem öffentlichen Dienst verbannt, einigen wurde der Pass entzogen.
Tuba İnal Çekiç ist eine von ihnen und gründete 2017, zusammen mit 24 weiteren Kolleg*innen, die Organisation Off-University. Die Plattform bietet Lehrenden, die politisch unter Druck stehen, die Möglichkeit, ihre Arbeit online fortzuführen, und Studierenden Zugang zu kritischer Lehre. Während sich in Deutschland viele über das dritte »Zoom-Semester« in Folge beschweren, ist die Online-Lehre für sie - Corona hin oder her - essenziell. Mit Tuba İnal Çekiç sprach Valentina Mariebelle über die Chancen und Möglichkeiten der »Universität ohne Grenzen« und darüber, wie man die Institution Universität neu denken kann.
Wie haben Sie darauf reagiert?
Unser Hauptgedanke in diesem Moment war, dass wir ganz einfach etwas tun mussten. Wir mussten uns vernetzen. Wir brauchten unsere Student*innen, und wir mussten wieder unterrichten. Das ist unser Beruf, das ist das Einzige, was wir tun. Also haben wir gesagt: Okay, wenn wir nicht mehr reisen dürfen, reisen wir nicht mehr. Dann machen wir das online! Die Idee war also schon da: Wenn die Regierung uns von der Universität verbannt, dann gründen wir eben eine neue Universität! So haben wir schließlich diese Zwischenform gefunden, die online stattfindet und dadurch mehr Freiheiten bietet. Wir können Student*innen überall auf der Welt erreichen. Es gibt hier keine Pässe, keine Zölle und keine Grenzen, das heißt, niemand kann uns darin einschränken.
Daraus ist die Off-University entstanden?
Genau, im Mai 2017 haben wir 24 Gründungsmitglieder die Organisation gegründet und im Oktober das erste Mal Online-Lehrveranstaltungen zu unserem Hauptthema Frieden angeboten. Inzwischen sind digitale Veranstaltungen durch die Coronakrise ganz normal geworden, aber damals war das für alle neu. Seitdem hat sich die Off-University natürlich weiterentwickelt bis zu dem, was sie heute ist. Inzwischen können wir wieder mehr reisen, allerdings gibt es nach wie vor Schwierigkeiten. Es sind immer noch viele Akademiker*innen gefährdet, Wissen ist gefährdet. Wir haben verschiedene Lehrveranstaltungen - für die meisten dienen deutsche Universitäten als Gastgeber. Die Kurse werden von gefährdeten Akademiker*innen gegeben, einige auch in Kollaboration - das nennen wir dann Tandemkurse. So können wir unseren Student*innen Zertifikate für die Kurse geben, damit sie die entsprechenden ECTS-Punkte bekommen. Wir versuchen stets, die Student*innen zu schützen, die Kurse über eine Plattform wahrnehmen, die zum Beispiel in der Türkei als terroristisch angesehen wird. Stellen Sie sich vor, was das in einem autoritär regierten Land bedeuten kann.
Gibt es viele Schwierigkeiten bei der Organisation dieser Kollaborationen? Wie gehen Sie damit um?
Nachdem in Istanbul ein Politiker als neuer Rektor der Bosporus-Universität ernannt wurde, gab es jeden Tag Proteste. Dabei wurden auch einige Student*innen verhaftet, die teilweise noch immer inhaftiert sind. Deswegen können Student*innen bei der Off-University anonym bleiben, es gibt keine Weiterverfolgung von Daten oder IP-Adressen. Die Sicherheit und der Schutz der Student*innen und ihrer Daten ist für uns von höchster Priorität.
Auf der anderen Seite stehen die Lehrenden, die noch im Land oder im Exil sind. Sie müssen nicht unbedingt aus der Türkei sein, wir haben auch andere Akademiker*innen, aus Aserbaidschan, aus Syrien und Belarus. Dafür haben wir offene Ausschreibungen. Die eingesandten Vorschläge werden von unserem Auswahlkomitee geprüft, und wir klären anschließend die Finanzierung und alles Weitere. Je nachdem, wo die Lehrenden herkommen, müssen sie unterschiedlich stark geschützt werden. Das ist noch relativ neu für uns, und wir lernen viel dazu. Wann immer wir eine Lehrveranstaltung aus Belarus haben, gibt es zum Beispiel technische Angriffe auf unsere Plattform.Wie wird es jetzt weitergehen?
Momentan läuft die Ausschreibung für das Wintersemester 2021, dabei liegt der Fokus auf den Themen Genderstudies, Friedensforschung und Universität neu denken. Außerdem wollen wir auch den Forschungsbereich weiter ausbauen, um gefährdetes Wissen zu fördern und Vernetzungsmöglichkeiten für Lehrende weltweit zu schaffen. In letzter Zeit bekommen wir immer mehr Vorschläge von Akademiker*innen aus Belarus und vielen anderen Ländern. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass wir mehr Sichtbarkeit erreicht haben, oder ob die Situation in den Ländern schlimmer wird. Was gerade in Istanbul passiert, war zum Beispiel der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Wenn es dort so weitergeht, können wir nicht mehr von akademischer Freiheit sprechen. Wir haben schon viel verloren; die akademische Freiheit wird seit Jahren immer stärker eingeschränkt. Lasst uns hoffen, dass die neuesten Ereignisse ein Anstoß sind, um die Diskussion über Demokratie an Universitäten neu zu führen.
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