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Demokratieblockierer

Der Filibuster im US-Senat ist zu einem Vetorecht geworden und verhindert gesellschaftlichen Fortschritt

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 7 Min.

Joe Biden hat wenig Zeit für seine Reformprojekte: den Corona-Rettungsplan, die Wahlrechtsreform oder die Modernisierung von Amerikas Infrastruktur - nicht nur, weil er der älteste US-Präsident aller Zeiten ist. Der Demokrat muss sich beeilen, weil 2022 schon wieder Zwischenwahlen sind und das Repräsentantenhaus (»House«) ganz und der Senat zum Teil neugewählt werden. Zwar haben die Demokraten in beiden Kongresskammern die Mehrheit, doch die ist knapp: Im »House« beträgt sie nach Verlusten vorigen November 218 zu 212, im 100-köpfigen Senat besteht mit 50 zu 50 Gleichstand. Lediglich Vizepräsidentin Kamala Harris, qua Verfassung auch Senatspräsidentin, kann bei Abstimmungen das Patt zur Mehrheit wandeln.

Für die meisten Gesetze ist im Senat eine qualifizierte Mehrheit von 60 der 100 Mitglieder nötig. Die Demokraten brauchen also mindestens zehn Republikaner - wegen deren jahrelanger Blockadehaltung, die schon viele Vorhaben Barack Obamas beerdigte, ein fast unmögliches Unterfangen. Dahinter steht die Filibuster-Regel. Diese Abstimmungsregel kann von der jeweiligen Minderheit als Verschleppungstaktik genutzt werden, um Schlussabstimmungen über Gesetze zu verhindern, und ist aktuell der wichtigste Grund für die Verzögerung von Bidens Agenda.

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Nach den jüngsten Schusswaffenmassakern in Atlanta (Georgia) und Boulder (Colorado) etwa war die Schärfe der Blockadewaffe wieder zu spüren: Vizepräsidentin Harris rief den Senat auf, endlich die vom Repräsentantenhaus längst verabschiedeten schärferen Waffengesetze auch in der zweiten Kammer zu verabschieden. Der Appell blieb ungehört. Einmal mehr: Weil die Demokraten im US-Senat intern zerstritten sind. Seit die Demokraten 2018 die Mehrheit im Repräsentantenhaus übernommen haben, wurden mehr als 400 Gesetze verabschiedet, die dann im Senat an der Republikaner-Mehrheit und am Filibuster scheiterten. Nachdem die Demokraten seit diesem Jahr im Senat eine Mehrheit der Stimmen erzielen können, steht nur noch der Filibuster als Hürde im Weg.

Dauerrede als Veto

Die bekannteste Form des Filibusters ist die Marathonrede, der »talking filibuster«. Dauerreden oder deren Androhung sollen das Ende einer Debatte und Beschlussfassung durch die Senatsmehrheit vereiteln. Filibustern ist keine amerikanische Erfindung, sondern geht auf die Ermüdungsrede im alten Rom zurück. Die längste Einzelrede im Senat von Washington DC hielt der berühmt-berüchtigte rassistische Senator Strom Thurmond. 1957 sprach er 24 Stunden und 18 Minuten am Stück, um das Gesetz zur Erleichterung des Wahlrechts für Afroamerikaner zu verhindern. Nur anfangs sprach er zum Thema, wechselte bald in immer fernere Gefilde - zitierte die Unabhängigkeitserklärung, die Wahlgesetze aller Bundesstaaten, um schließlich bei den Backrezepten seiner Großmutter zu landen. Die Zeitschinder-Rede füllt 87 eng beschriebene Seiten im Archiv des Kongresses.

Der »talking filibuster« wurde zuletzt eher selten praktiziert. Bei strittigen Gesetzesvorhaben genügt die Androhung, um Entwürfe von der Tagesordnung fernzuhalten. Die Mehrheitsführer, aktuell der Demokrat Chuck Schumer, davor der Republikaner Mitch McConnell, bringen eine Gesetzesvorlage erst ins Plenum, wenn sie 60 Stimmen sicher hat. Andernfalls ist nicht zu erwarten, dass sich genug Stimmen für die Beendigung der Debatte finden.

Demokraten am Scheidepunkt

Seit die Republikaner unter ihrem Mehrheitsführer McConnell in der Obama-Ära fast alles verhinderten, was den ersten nichtweißen Präsidenten hätte erfolgreich aussehen lassen können, ist das Blockadeschwert exzessiv geführt worden: Wurde die wichtigste Form des Filibusters von seiner Einführung 1917 bis zum Jahr 2000 knapp 800 Mal genutzt, geschah es in den letzten zwei Dekaden rund 1500 Mal. Der Filibuster wurde zum Synonym für die Lähmung des Kongresses. Der langjährige Senator Tom Udall nannte den Senat deswegen einen »Friedhof für den Fortschritt«. Ziel ist nicht mehr, wie zu Beginn seiner Praxis vor gut 200 Jahren, die Senatsmehrheit mit leidenschaftlicher Rede zu überzeugen, sondern bloße Blockade. Der Filibuster ist zu einer Vetomacht für die Senatsminderheit geraten, um die Mehrheit in Geiselhaft zu nehmen und Fortschritt im Land zu blockieren.

An diesem Punkt stehen Bidens Demokraten jetzt. Sie wollen deshalb das Hindernis entweder verkleinern oder ganz abräumen. Rein theoretisch könnten sie mit ihrer Kamala-Harris-Mehrheit von 50 plus 1 den Filibuster kippen, denn der Senat kann seine Geschäftsordnung selbst regeln. Nachdem die Republikaner die Ernennung von Obamas Ministern 2013 blockierten, schafften die Demokraten den Filibuster für die Bestätigung von Ministern ab. 2017 beendeten die Republikaner die 60-Stimmen-Erfordernis bei der Besetzung von Richtern am Supreme Court und an Bundesgerichten, um eine möglichst konservative Spitzenrichterbank zu installieren. Eine Abschaffung der ganzen Regel aber hat noch keine der beiden großen Parteien gewagt. Denn: Wechseln die Mehrheitsverhältnisse nach einer Wahl, kann der Filibuster vom Hindernis schnell wieder zum Schutzschild werden.

Noch vor Jahren plädierte nur eine Minderheit liberaler Demokraten-Senatoren für eine Filibuster-Abschaffung und selbst Bernie Sanders, der 2010 mit einer achteinhalbstündigen Filibusterrede gegen Sozialabbau berühmt wurde, verteidigte ihn. Doch dieses Jahr änderte er seine Meinung. Aktuell verteidigen nur noch eine Handvoll konservativer Demokraten den Filibuster. Laut Zählung der linken Justice Democrats von Anfang März haben 39 der 50 Demokraten-Senatoren mit »vielleicht« oder »ja« auf die Frage zur Abschaffung des Filibuster geantwortet, elf haben sich noch nicht geäußert und werden nun von der Basis mit kritischen Telefonanrufen bearbeitet. Nur wenige jedoch sperren sich explizit und lautstark gegen Veränderungen.

Die konservativen Blockierer

Besonders die Demokraten Joe Manchin aus West Virginia und Kyrsten Sinema aus Arizona lehnen die Abschaffung mit dem Argument ab, Filibustern begünstige letztlich Kompromisse, ein Argument das angesichts der aktuellen Praxis als Verhinderungsargument hohl ist. Doch auch Manchin und Sinema scheinen offen, das Filibustern zumindest so zu erschweren, dass die Minderheit stärker als bisher Last und Preis ihrer Lähmungslinie zu fühlen kriegt. »Wir haben die Filibuster-Nutzung erleichtert über die Jahre, vielleicht sollte es schmerzhafter sein«, so öffnete er Anfang März die Tür, um sie vergangene Woche scheinbar wieder zuzustoßen: »Unter keinen Umständen« werde er für eine Reform stimmen. Manchin schob aber hinterher, auch die Republikaner müssten Kompromisse eingehen.

Joe Biden wiederum will das Filibustern in der jetzigen Form beseitigen. Er befürwortet mittlerweile einen reformierten »talking filibuster« - die Festlegung, dass mindestens 41 Senatoren tatsächlich präsent sind, wenn ein Senator filibustert, der dabei auch tatsächlich sprechen müsse, um eine Abstimmung zu verhindern: »So war es damals, als ich zum ersten Mal in den Senat kam«, so Biden.

Schon diese Bedingung wäre wegen des hohen Altersdurchschnitts im Senat für viele Senatoren eine enorme Hürde. Doch Biden behält sich weitergehende Reformen vor: »Wenn Stillstand und Chaos das Ergebnis eines Filibusters sind, müssten wir mehr tun.« Die »Washington Post« schrieb danach: »Je frustrierter die Demokraten über die Republikaner und ihre eigene Unfähigkeit werden, Gesetze durchzubringen, desto wahrscheinlicher wird es Änderungen geben.«

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Die Republikaner wiederum warnen drohend vor der Reform. Mitch McConnell, wegen des Dauereinsatzes der Blockadewaffe gegen Barack Obama »Grim Reaper« (Sensenmann) genannt, hat Biden und den Demokraten mitgeteilt, was ihnen bei Reform beziehungsweise Wegfall des Filibusters blüht: Die Republikaner würden »alles blockieren« und dafür sorgen, dass der Senat »einer Massenkarambolage von 100 Autos gleicht«.

Reform als Ausweg?

Eine weitere Möglichkeit: Der Senat könnte den Filibuster für einzelne wichtige Gesetzesprojekte wie ein Paket zur Wahlrechtsreform auch selektiv aufheben. Das Bundesgesetz HR1 oder S1 könnte zahlreiche neue Einschränkungen und Maßnahmen zur Wählerunterdrückung, die die Republikaner derzeit in zwei Dutzend Bundesstaaten planen, ungültig machen.

Der einflussreiche und eher konservative Kongress-Abgeordnete Jim Clyburn aus South Carolina - der schwarze Parlamentarier ist ein wichtiger Biden-Verbündeter und sicherte diesem durch seine Unterstützung 2020 praktisch den Vorwahlsieg - macht deswegen Druck auf Biden, Manchin und Sinema: »Wir werden auf keinen Fall im Jahr 2021 zulassen, dass der Filibuster genutzt werden kann, um den Leuten ihr Wahlrecht zu verwehren. Das wird nicht passieren. Es wäre eine Katastrophe.«

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