• Kultur
  • Rassismus an deutschen Bühnen

Kein richtiges Theater im falschen

Nach Rassismusvorfällen am Düsseldorfer Schauspielhaus wird um richtiges Verhalten gerungen - zwischen gut gemeinten Schutzräumen und offensiver Auseinandersetzung

  • Lothar Kittstein
  • Lesedauer: 5 Min.

Im März machte der Schauspieler Ron Iyamu ihm widerfahrenen Rassismus am Düsseldorfer Schauspielhaus öffentlich. Das schlug bald Wellen. Der linke Dramaturg Bernd Stegemann analysierte als Außenstehender in der FAZ die Vorfälle und übte Kritik an hierarchischen Theaterstrukturen, aber auch an Iyamus Umgang mit der Situation. Zwei Tage später wurde in Theaterkreisen ein Google-Dokument verbreitet, das man online vorab unterzeichnen konnte, während der Text bis tief in die Nacht redigiert wurde. Der in der »Berliner Zeitung« erschienene offene Brief mit 1400 Unterzeichnern aus dem Theaterbetrieb greift Stegemann scharf an.

Das hektische Verfahren verweist auf eine überschießende Emotionalität, die den - bitternötigen - Antirassismus derzeit prägt. Sie geht mit einem fahrlässigen Hang zu begrifflicher Unschärfe einher. Ein Beispiel: Der offene Brief fordert für Ron Iyamu »eine freie Zukunft in der deutschen Theaterlandschaft«. Er habe das Recht, »sich wie alle Künstler zu verwirklichen«. Angesichts einer hochorganisierten, kollektiven Kunstform von persönlicher Verwirklichung zu sprechen, führt in die Irre. Das Theatersystem ist ein umkämpfter Markt, auf dem neben Talent auch kulturelles Kapital zählt. Nicht weiß zu sein, ist paradoxerweise - angesichts steigender Diversitätsansprüche an die Theater - für Schauspieler derzeit mitunter ein Vorteil, der selbst doch von der überwölbenden Unfreiheit der Verhältnisse zeugt, die ihn hervorbringen. Angesichts dessen wirkt die Rede von »freier Zukunft« oberflächlich, ja naiv.

Ein zweites Beispiel: Man solle »kritisch und ganzheitlich« denken, so in dem Brief. Nun widerspricht sich beides. Kritik heißt Analyse, Ganzheitlichkeit ist eine Esoterik-Vokabel. Ist damit der Bezug aufs große Ganze gemeint? Aber welches, wenn danach gefordert wird, »jede Form von Totalität« auszugrenzen? Ist das ein Angriff auf Hegel, für den Totalität vollendete Philosophie war? Adorno war Totalität Bedingung kritischer Theorie, die in Kategorien gesellschaftlicher Verknüpfung denkt. Oder ist »Totalitarismus« gemeint? Man rätselt beim Lesen.

Wer über derlei Stilblüten lächelt, dem vergeht das Lachen - drittens - bei der Lässigkeit, mit der der Text Kolonialverbrechen und Holocaust in einen Topf wirft. »Unsere Vorfahren in der Zeit des Kolonialismus und Nationalsozialismus«, so raunt es, hätten »ein Chaos« angerichtet, in dem »Unberührbarkeit und Unverletzbarkeit des Menschen« millionenfach außer Kraft gesetzt wurden. Die nebulöse Ausdrucksweise verhindert jede historische Erkenntnis. Da ist der feine Unterschied zwischen dem Menschen, der doch ebenso berühr- wie verletzbar ist, und seiner unantastbaren Würde schon fast egal. Wer anderer Meinung ist, will wohl das »Pendel der Geschichte«, so der Brief, »zurückschieben«. Die sprachliche Verrenkung verhüllt kaum, was gemeint ist: Der Adressat des Briefs befinde sich in geistiger Nähe zu Kolonialherren und Nazis.

Sollte uns die Empörungswilligkeit, mit der 1400 Leute aus dem Theaterbereich ein derart hastig hergestelltes Elaborat unterzeichnen, nicht beunruhigen? Wo Denken sich kritisch gibt, auf analytische Schärfe aber pfeift, produziert es Ideologie. So ist etwa das gerade viel diskutierte Konzept von »Safe Spaces« als eigene Orte der Kunstproduktion für nicht weiße Minderheiten, denen anderswo »Retraumatisierung« drohe, problematisch. Fluchtburgen im Diskurskrieg zu errichten, klingt progressiv, ist aber im Kern zutiefst unpolitisch, weil vielfältige gesellschaftliche Widersprüche doch die Zuflucht suchenden Gruppen selbst prägen. Die Sicherheit, in der man sich an »sicheren« Orten wiegt, bleibt angesichts der falsch eingerichteten Welt immer trügerisch, ist selbst so falsch wie das feindliche Außen. Der Gestus des Rückzugs gibt die universalistische Vision einer Gesellschaft, um die doch zu kämpfen wäre, ja gibt den Begriff von Gesellschaft selbst preis, die nur als Einheit der Antagonismen zu begreifen ist, und folgt einer Logik der Zersplitterung.

Die Kunst steht angesichts der gut gemeinten Forderung, jede »Retraumatisierung« zu vermeiden, die sich zunehmend an Stückinhalte, an die Sprechweise von Theaterfiguren richtet, vor einer unlösbaren Aufgabe. Kunst kommt es zu, Wunden zu schlagen, im griechischen Wortsinn: zu traumatisieren. Das gelingt selten genug. Wir sind, zu Recht, am Theater allesamt leidenschaftliche Nörgler und selten glücklich. Derzeit aber verbreitet sich eine durchgreifende Unsicherheit bezüglich der Grenzen des künstlerisch Sagbaren. Das geht über die Tabuisierung einzelner Wörter hinaus und führt zum Beispiel dazu, dass auf Proben gezweifelt wird, ob die Figur eines Rassisten rassistisch reden dürfe, ohne dass sofort eine weitere Figur widerspricht. Gewiss hat das Theater als eine privilegierte Kunstform, die beansprucht, gesellschaftliche Widersprüche zu verkörpern, diese Unsicherheit verdient. Es muss sie aushalten. Aber an den Widersprüchen partizipieren alle, es gibt keinen gesellschaftlichen Ort, keine lupenrein antirassistische Sprache, die frei davon wäre.

Im Internet kann man Ron Iyamus Diplomarbeit finden, die seine Erfahrungen schildert. Wer sie liest, erschrickt über wirklich empörende Rassismen, denen der Autor ausgesetzt war, kann aber auch verfolgen, wie bei den von ihm geschilderten Produktionen vielfach um das richtige Vorgehen gerungen, korrigiert, gestritten, erneut korrigiert und wieder gestritten wurde. Jenseits der berechtigten Frage, wer sich in Düsseldorf falsch verhalten hat, ist unter den herrschenden Verhältnissen dieses Ringen alles, was erreichbar scheint. Dass es in einer falschen Welt kein richtiges Theater gibt, sondern allenfalls eines, das sich seinen Widersprüchen stellt, die die gesamtgesellschaftlichen in besonderer Form sind, zumindest darin sollten sich die Uneinigen einig sein. Wer das zugunsten einer »safen« antirassistischen Empörung verwirft, erweist dem Anliegen des Antirassismus einen schlechten Dienst.

Lothar Kittstein ist Theaterautor und Dramaturg, u. a. am Theater in Bonn und Düsseldorf.

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