- Berlin
- Andreas Geisel
»Ich sehe da Parallelen zur Weimarer Republik«
Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) über politische Gewalt und Antisemitismus, »Extremismus« und schwerstkriminelle Strukturen
Solche Vergleiche verbieten sich für mich. Das kann man nicht so ins Lächerliche ziehen – es geht hier um die Bekämpfung von Kriminalität. Darauf lege ich großen Wert: Wir bekämpfen Kriminalität, wir bekämpfen nicht einzelne Familien.
Dennoch fällt auf, dass der »Clan«-Begriff nur in Bezug auf solche Familien verwendet wird, die ursprünglich aus dem Libanon eingewandert sind. Wie kommt das?
Das ist eine sehr gute Frage an die Journalistinnen und Journalisten, die das so benutzen, weniger an mich. Bei uns ist es wesentlich, dass wir Formulierungen verwenden, um die Organisationsstrukturen von Kriminalität zu beschreiben. Und bei dieser Form der Kriminalität ist die Organisationsstruktur familienorientiert. Sie beruht sogar auf diesen Familienstrukturen.
Sie haben vor Kurzem erklärt, Polizei und Justiz machen deutlich, dass Berlin nicht »den Clans« gehört. Aus dieser Formulierung höre ich eine Art von Kollektivhaftung, einen Generalverdacht heraus.
Das sehe ich nicht so. Es gibt aber die Versuche von einigen, die geltenden Regeln sichtbar zu brechen und damit deutlich zu machen, dass die Gesetze unserer Demokratie und die Vorgaben des Rechtsstaates für sie nicht gelten sollen. Dadurch entwickeln sich Parallelgesellschaften. Das können wir nicht zulassen. Unsere Demokratie wird immer häufiger offen infrage gestellt, von verschiedenen Seiten. Das bekämpfen wir. Deswegen müssen wir zeigen, dass der Rechtsstaat ausnahmslos für alle gilt.
Gestandene Kriminalpolizisten haben früher immer ganz genau zwischen Verdächtigen und Nichtverdächtigen unterschieden, die hätten nie einen Familiennamen als Struktur aufgefasst.
Das ist heute ja nicht anders. Ein Name hat erst mal nichts mit Struktur zu tun. Wie sich verschiedene Kriminelle mit demselben Namen innerhalb einer Familie organisieren, das ist eine Strukturfrage. Wir haben diese Art der Kriminalität viel zu lang hingenommen, bis sie so stark geworden ist, dass wir jetzt mit aller Kraft dagegen kämpfen müssen.
Dabei gehen Sie auch mit Abschiebungen vor. Die Mehrzahl der Verdächtigen aus den schwerstkriminellen Milieus sind aber deutsche Staatsbürger, also Berliner.
Richtig. Die Abschiebung von Intensivtätern ist eines unserer Instrumente, aber keine pauschale Lösung. Deutsche kann man nicht abschieben.
Und eigentlich wollte Rot-Rot-Grün beim Thema Abschiebungen einen Paradigmenwechsel herbeiführen. Wie passt das zusammen?
Paradigmenwechsel heißt, dass wir uns zu Einwanderung bekennen, eine Willkommenskultur entwickeln, dass wir Arbeitsmöglichkeiten für Geduldete schaffen, dass wir Familien bei der Abschiebung nicht mehr trennen. All das hat Rot-Rot-Grün eingelöst. Ich habe aus der Ausländerbehörde das Landesamt für Einwanderung gemacht. Aber deutsches Recht gilt auch in Berlin. Wir erhalten nur dann eine Akzeptanz für unsere humanitäre Flüchtlingspolitik, wenn wir auf der anderen Seite deutlich zeigen, dass wir gegen Schwerstkriminalität vorgehen. Beides gehört an dieser Stelle zusammen.
Sie gehen mit Großaufgeboten der Polizei in Shisha-Bars und führen dort Razzien durch. Dabei stellen Sie in der Hauptsache Bagatelldelikte fest. Ist das nicht eine Verschwendung der knappen Ressourcen der Polizei?
Nein. Weil wir Kriminalität auf allen Ebenen bekämpfen. Eine Form ist die Bekämpfung organisierter Kriminalität mit schwersten Straftaten. Es fängt aber schon viel tiefer an: bei Transferleistungsbetrug; es geht weiter über Profilierungsfahrten und Brandschutz in Shisha-Bars bis hin zur Beschlagnahme von tonnenweise unversteuertem Tabak. Was wäre denn Ihre Alternative? Kriminalität nicht zu bekämpfen?
Ich stelle einfach kritische Fragen zu Ihrer politischen Agenda. Natürlich gibt es spektakuläre Verbrechen und Bandenstrukturen, die bekämpft werden müssen. Aber wäre es dazu nicht besser, die Polizei technisch und personell gut auszustatten, damit sie gegen die Organisierte Kriminalität besser vorgehen kann?
Wir haben unter Rot-Rot-Grün 587 neue Stellen im Landeskriminalamt geschaffen. Allein den Bereich zur Terrorismusbekämpfung haben wir nach dem Anschlag auf den Breitscheidplatz personell verdoppelt. Außerdem haben wir die technische Ausrüstung, was die Hard- und Software betrifft, deutlich verbessert. Das hat damit zu tun, dass wir große Probleme mit der Auswertung von Massendaten hatten – das lässt sich gar nicht mehr händisch bearbeiten. Außerdem haben wir die Löhne erhöht. Die Berliner Polizisten verdienen heute im Durchschnitt pro Monat 800 bis 900 Euro mehr, als sie noch am Ende der vergangenen Legislaturperiode verdient haben.
Erzielen die Innenbehörden hierzulande nicht vor allem dann Erfolge, wenn Ihnen wie jetzt das entschlüsselte Material von den sogenannten Krypto-Handys zugespielt wird?
Die geknackten Krypto-Handys sind das Ergebnis von Arbeit. Aber ich will nicht verhehlen, dass hierzulande, was die Beschaffung von Daten angeht, eine gewisse Bigotterie herrscht. Einige sind stolz, dass wir Messengerdienste nicht mitlesen können, freuen sich dann aber, wenn wir die Informationen von den Amerikanern bekommen und damit Anschläge verhindern. Das nenne ich bigott. Ich bleibe dennoch ein Verfechter der Aussage: So viel Freiheit wie möglich, so viel Sicherheit wie nötig.
Als SPD-Innensenator müssen Sie die Flanke nach rechts abdecken. Aber muss man deshalb automatisch auch prominent medial im Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg auflaufen, wo viel Drogenhandel stattfindet? Das ist doch reine Symbolpolitik.
Im Görlitzer Park ist die Polizei täglich unterwegs. Das wollte ich mit dem Pressetermin herausstellen. Aber ja: Symbole gehören zur Politik, alles andere wäre schlicht unehrlich. Meine Rolle bei R2G ist mir bewusst: Man kann mit Innenpolitik Wahlen krachend verlieren, wenn man das Scheunentor offen lässt. Ich schließe dieses Tor.
Rot-Rot-Grün hat versprochen, mehr Polizei auf die Straße zu bringen und das Sicherheitsgefühl der Berlinerinnen und Berliner zu verbessern. Haben Sie das eingelöst?
Die Situation hat sich im Vergleich zum Beginn der Legislaturperiode deutlich verbessert. Wir haben insgesamt 2300 neue Stellen bei der Polizei geschaffen. Die Polizei ist im öffentlichen Straßenbild sichtbarer. Ich sage nur Alex-Wache, mobile Wachen, Fahrradstreifen, Kontaktbereichsbeamte, die wir wieder einführen. Zuletzt sank die Kriminalität auch objektiv.
Dennoch, Sie sprachen es selber zu Beginn des Interviews an, sind die Demokratie, aber auch viele Berlinerinnen und Berliner, die sich für sie einsetzen, Gefahren ausgesetzt. Nach jüngsten Zahlen der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus haben beispielsweise Übergriffe auf Jüdinnen und Juden in Berlin stark zugenommen; sie werden auch in ihren eigenen vier Wänden öfter angegriffen und bedroht. Müsste Sie das als Innensenator nicht stärker umtreiben?
Es gibt eine Reihe rechts-, aber auch linksextremistischer Bedrohungen von Menschen zu Hause. Sogenannte Hausbesuche, deren Zahl dramatisch zugenommen hat. Wir beobachten insgesamt, dass der politische Extremismus zunimmt. Das spiegelt sich auch in der polizeilichen Kriminalstatistik wider. Außerdem haben im vergangenen Jahr antisemitische Vorfälle im Zusammenhang mit den Querdenker-Demonstrationen zugenommen. Mich beunruhigt, dass die politischen Ränder der Gesellschaft stärker werden. Ich sehe da Parallelen zur Weimarer Republik, wo auch zu viele Demokraten zu solchen Entwicklungen geschwiegen haben.
Wenn das eigene Zuhause nicht mehr sicher ist, weil man bedroht wird, müssen Sie als Innensenator dann nicht stärker intervenieren, statt über eine wissenschaftlich höchst umstrittene Extremismustheorie zu sinnieren?
Im Bundestag liegen entsprechende Gesetzesvorschläge gegen Hasskriminalität im Internet, die von Grünen und Linken abgelehnt wurden, weil sie in Bürgerrechte eingreifen. Es gibt die technischen Möglichkeiten, die Absender von Hassbotschaften aufzuspüren, aber in dem Moment, wo wir diese Möglichkeiten nutzen, sind wir wieder beim Thema Einschränkung der Bürgerrechte. Schließlich werden dabei auch Daten von Menschen geprüft, die keine Extremisten sind.
Was machen Sie konkret gegen Antisemitismus?
Wir haben einen Runden Tisch gegen Antisemitismus gegründet, außerdem sensibilisieren wir mit dem Antisemitismusbeauftragten der Berliner Polizei die Polizistinnen und Polizisten. Dabei geht es nicht darum, dass wir Antisemitismus in den eigenen Reihen befürchten, sondern wir wollen, dass die Beamten besser Antisemitismus und antisemitische Stereotype erkennen und dann dagegen vorgehen können. Das Schlimmste wäre, wenn sich die Opfer sich alleingelassen fühlen. Genau das ist ja das Ziel der Neonazis.
Die rechtsextreme Terrorwelle in Neukölln schwappt weiter. Nun gibt es auch mutmaßlich rechtsextreme Brandanschläge in Spandau. Was tun Sie, um dagegen vorzugehen?
Es gibt übrigens auch eine Reihe von linksextremistischen Brandanschlägen in der Stadt. Ihre Kritik geht immer in eine Richtung – guter Extremismus, böser Extremismus. Deshalb kann man das trotzdem nicht vergleichen. In keiner Weise vergleiche ich das. Aber diese Brandanschläge gibt es aus den unterschiedlichsten politischen Phänomenbereichen, und die sind allesamt zu verurteilen. Wir gehen energisch gegen rechtsextremistische Übergriffe vor. In Sachen Neukölln gehe ich davon aus, dass wir demnächst die Anklage durch die Staatsanwaltschaft haben werden.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.