Die Papierlosen von Béguinage

Rund 250 Menschen ohne offizielle Dokumente besetzen derzeit eine Kirche im Zentrum von Brüssel. Sie fordern die sofortige Legalisierung ihres Aufenthaltsstatus. Die Pandemie trifft diese Gruppe schonungslos

  • Helena Piontek
  • Lesedauer: 9 Min.

Nezra schlägt den leuchtend gelben Stoff ihres Zelts nach oben und steigt vorsichtig hinein. »Das ist mein Zuhause«, sagt sie und blickt sich in dem Einpersonenzelt um, als wolle sie überprüfen, ob das wirklich alles ist. Doch da ist sonst nichts. Wie eine kleine gelbe Insel schwimmt Nezras Zelt in einem Mosaik an Decken, Kartons und Matratzen, Kante an Kante zusammengeschoben. Nur die Fußwege zwischen den Schlafstätten lassen den dunklen Steinboden erkennen, über dem sich die barocke Decke der Saint-Jean-Baptiste-au-Béguinage-Kirche spannt. Hier, mitten im beliebten Brüsseler Viertel Saint-Catherine, wird möglicherweise derzeit die belgische Asylfrage entschieden. Denn die Menschen, die seit Ende Januar die katholische Kirche besetzt halten, haben genug vom versteckten Leben. Sie nennen sich »Sans-papiers«, die Papierlosen, Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis im Land, die hier in Belgien, wie in ganz Europa unter uns leben, meist geräuschlos, verborgen, illegalisiert. Sie fahren im Bus nie ohne Ticket und gehen, wenn sie krank sind, nicht zum Arzt, weil die Furcht vor Abschiebung permanent über ihnen schwebt. Diese Menschen stellen sich nun in Brüssel in die Öffentlichkeit und fordern eine dauerhafte Bleibeperspektive.

Nezra, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, war 28 Jahre alt, als sie nach Belgien kam. In Marokko war ihre Ehe von Gewalt bestimmt. Also schmuggelte sie sich nach Belgien, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für sich und ihre zwei kleinen Töchter. Die Kinder wollte sie bald nach ihrer Ankunft auf legalem Weg nachholen, doch es kam anders. »Ich war ein Idiot«, sagt Nezra heute. Denn seitdem sind 33 Jahre vergangen. »Meine Töchter haben längst selbst geheiratet, sie leben ihr eigenes Leben in Marokko.« Ohne Pass und ohne Aufenthaltstitel schwebt sie in einem rechtlichen Vakuum und arbeitet ohne Vertrag, um zu überleben. »Wir alle hier arbeiten so hart, Tag und Nacht, jeden Tag in der Woche, wir haben nie frei. Sie arbeitet in einer Patisserie, sie in einer Bäckerei, die Frau dahinten in Restaurants«, sagt Nezra und zeigt auf die übrigen Frauen, die wie sie in einem mit Kartons abgegrenzten Bereich der Kirche schlafen. Unter den Besetzer*innen ist sie eine Autoritätsperson. Nezra sagt, sie fühle sich manchmal wie eine Mutter für die meist deutlich jüngeren Mitstreiter*innen. »Anfangs gab es Schwierigkeiten, aber jetzt sind wir wie eine große Familie.«

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250 Männer, Frauen und ein paar Kinder wohnen in der Kirche aus dem 17. Jahrhundert. Die meisten von ihnen haben ein Zuhause in Belgien, viele schlafen nachts in ihren eigenen Betten und kommen tagsüber wieder. Sie kamen aus Marokko, aus Algerien, Tunesien, Ägypten, aus Ecuador und Nigeria, ein paar auch aus Pakistan. Alle nennen Belgien heute ihre Heimat. »Wir haben es einfach satt, von unseren Chefs ausgenutzt zu werden. Wir arbeiten für vier, fünf Euro in der Stunde, oft werden unsere Frauen von ihnen sexuell ausgebeutet«, sagt Tarik, einer der Wortführer der Besetzer*innen, ein hagerer Mann um die 30, der immer auf dem Sprung zu sein scheint. Auch er möchte seinen Nachnamen nicht nennen. Nur kurz hält er inne, um ein paar Sätze über die Situation der Papierlosen zu verlieren. »Unsere Kinder sind in Belgien geboren und zur Schule gegangen, sie besuchen hier die Universität. Wir sind hier, um wenigstens ein Mindestmaß an Würde zurückzubekommen«, sagt Tarik. Denn korrupte Arbeitgeber nutzen die verletzliche Situation der Sans-papiers aus. Sie wissen, dass die Schutzlosen viel tun, um nicht aufzufliegen und ihr Auskommen zu sichern. Denn Leben in Illegalität bedeutet immer auch ein Leben in völliger Unsicherheit: ohne Krankenversicherung, ohne Arbeitsschutz, ohne jegliche Rechte, die reguläre Bürger des Landes haben. Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis begegnen uns in vielen Bereichen des Alltags, sie lackieren Nägel, stechen Spargel und putzen Hotelzimmer. Sie bauen unsere Häuser und pflegen unsere Alten. Seit dem Ausbruch der Pandemie sei die Lage nur noch viel schlimmer geworden, sagt Tarik: »Viele hier haben jetzt ihre Arbeit verloren, wir sind die verletzlichsten Menschen in Belgien.«

Es ist der unbrechbare Wille, der diese Gruppe eint. Sie wollen ein Bleiberecht für alle Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung. Egal, aus welchen Gründen jemand in dieser Situation ist: Einige sind illegal eingereist, andere haben das Land nach einem negativen Asylbescheid nicht wieder verlassen oder sind nach Ablauf einer temporären Aufenthaltsgenehmigung geblieben. Genaue Zahlen, wie viele Menschen unter diesen Bedingungen in Belgien leben, gibt es nicht, die »Coordination sans-papiers Belgique«, ein Bündnis, das derzeit mit einer Petition ein Bleiberecht für Papierlose erwirken will, spricht von 200 000 Menschen, in einem Land mit rund elf Millionen Einwohnern.

1998 wurde die Béguinagekirche zum ersten Mal von Sans-papiers besetzt, ganze 20 Monate harrten die Menschen damals in dem Gebäude aus. Zehn Jahre später, 2008, wurde die Kirche erneut Zentrum des Protests, wieder trugen die Menschen ihre Matratzen in das Kirchenschiff. Damals hatten die Sans-papiers breiten Rückhalt in der Bevölkerung. Die flämische Tageszeitung »De Standaard« veröffentlichte ein Meinungsstück mit dem Titel »Regulariseer nu« (»jetzt regularisieren«) für einen geregelten Aufenthaltsstatus illegalisierter Menschen - das von über 500 Mitarbeiter*innen aus Universitäten und Hochschulen unterzeichnet wurde. Vertreter*innen aller Religionsgemeinschaften sprachen sich für die Sans-papiers aus. Nicht ohne Folgen. Sowohl 1999 als auch 2009 gab es eine kollektive Legalisierung, bei der Sans-papiers, die bestimmte Bedingungen erfüllten, eine Aufenthaltserlaubnis erhielten. 2010 bekamen mehr als 10 000 Sans-papiers einen Aufenthaltstitel, im Jahr darauf weitere 6000.

Aber auch das war nur ein Bruchteil der mehr als 60 000 Menschen, die zwischen 2008 und 2010 einen Antrag auf Legalisierung gestellt hatten. Denn die sogenannten Regularisierungsrunden, wie sie in Belgien in den Jahren 2000 und 2009 stattfanden, führten nie zu einem Blankoscheck zur Sesshaftigkeit, auch die Menschen damals mussten strengen Vorgaben entsprechen. Es waren Menschen, die seit mehr als vier Jahren auf eine Asylentscheidung gewartet hatten, die schwer krank waren oder die nachweislich stark in der belgischen Gesellschaft verwurzelt waren.

Es sind auch die Gescheiterten von 2009, wie Nezra, die jetzt erneut in der Kirche aufgeschlagen sind. Und Menschen ohne Papiere, die in den vergangenen zehn Jahren neu dazugekommen sind. Doch die Hoffnung auf Erfolg ist dieses Mal deutlich geringer. Größere Solidaritätsbekundungen blieben bislang aus.

Um zu verstehen, warum die belgische Regierung - gerade in Zeiten einer globalen Pandemie - bislang keine pragmatische Lösung finden konnte, muss man wissen, wie tief gespalten das politische Belgien ist. Die vorherige Regierungskoalition zerbrach an einer Uneinigkeit über die Migrationspolitik. Die derzeitige Koalition besteht aus sieben Parteien. Bis diese sich auf eine Regierung einigen konnten, vergingen ganze 493 Tage.

Der zuständige christdemokratische Staatssekretär für Asyl und Migration, Sammy Mahdi, nannte die Besetzung in einem Interview Anfang Februar »Erpressung«, seitdem räumt er den Besetzer*innen in Statements regelmäßig jegliche Chancen auf eine kollektive Legalisierung aus. Die Besetzung scheint ihn fast schon persönlich zu treffen: »Ich bin immer für Diskussionen zu haben, da braucht man doch keine Kirchen oder sonst was zu besetzen«, sagt er in einem Gespräch mit »nd«: »Das hilft nicht.« Tatsächlich ließ er sich auf ein erstes Treffen mit den Aktivist*innen ein - außerhalb des besetzten Geländes. »Wir hatten ein gutes Gespräch«, sagt Mahdi, und stellt klar: »Mir war es wichtig, den Menschen keine falschen Hoffnungen zu machen: Es wird keinesfalls eine kollektive Regularisierung geben. Jeder hat das Recht, einen Antrag auf Asyl zu stellen. Aber nicht jeder hat das Recht, auch Asyl zu bekommen. Daran ändert auch eine Besetzung nichts.«

Obwohl es in Belgien regelmäßig Ausweisungen und freiwillige Rückführungen gibt und einzelne auch einen regulären Status erhalten, wächst die Zahl der undokumentierten Migrant*innen allmählich an. Neben Belgien haben daher auch andere Länder wie Spanien (2005) oder die Niederlande (2007) in der Vergangenheit schon größere Legalisierungen durchgeführt. Auch in Deutschland einigten sich die Innenminister 2006 auf eine »Altfallregelung« für langjährige Geduldete. Geflüchtete immer wieder kollektiv zu legalisieren, findet Sammy Mahdi ungerecht: »Es ist für mich unmöglich, für das Recht auf Asyl einzutreten, wenn gleichzeitig Menschen, die einen negativen Bescheid erhalten, diese Entscheidung nicht respektieren und nicht kooperieren. Das ist einfach nicht fair«, sagt Mahdi. »Dann macht es keinen Sinn, irgendeine Art von Asylsystem in Belgien oder im Rest der Europäischen Union zu haben.«

Statt Menschen eine Arbeitserlaubnis oder eine Aufenthaltsgenehmigung auszustellen, will Mahdi sich für den Schutz der EU-Außengrenzen starkmachen und den Prozess des Antrags beschleunigen. Spanien versucht für die im Land lebenden Sans-papiers einen anderen Weg zu gehen, wie Kevin Fredy Hinterberger berichtet. Er hat an der Universität Wien promoviert und dort zu Regularisierungsverfahren in verschiedenen europäischen Ländern geforscht. »In Spanien müssen Migranten nicht wie in anderen Ländern gleich zu Beginn einen Antrag auf Asyl stellen, sondern können sozusagen erst einmal irregulär im Land leben und arbeiten und dann nach ein paar Jahren immer noch einen Antrag auf Regularisierung stellen.« Trotzdem erhalten auch Menschen, die sich irregulär im Land aufhalten, ab dem ersten Tag Zugang zu Gesundheitsversorgung und Sozialleistungen, wenn sie sich in ein Melderegister eintragen. Außerdem greife in Spanien die sogenannte Arraigo Social, also die soziale Verwurzelung, die Menschen eine Möglichkeit zu bleiben gibt, die mehr als drei Jahre in Spanien leben und einen Arbeitsvertrag vorweisen können.

Wie ein Land der Migration begegnet, ist eine politische, eine juristische und nicht zuletzt auch eine ethische Frage: Ist es in Ordnung, Menschen, die jahrzehntelang in einem Land gelebt und gearbeitet haben, in ihre fremde Heimat zu schicken?

Daniel Alliet steigt die zwei Stufen zu der türkisfarbenen Tür hinauf und öffnet den Gastraum der ehemaligen Kneipe Klostereck, die gegenüber der besetzten Kirche liegt. Alliet war 35 Jahre lang der Gemeindepfarrer von Béguinage, dann musste er den Ruhestand antreten - doch der 76-Jährige denkt gar nicht daran, sich tatsächlich zur Ruhe zu setzen. Jeden Tag besucht er die Kirche und spricht mit den Besetzer*innen: »Wenn ich in die Kirche gehe, fragen mich die Menschen oft, wann ich ihnen endlich gute Neuigkeiten mitteilen kann. Aber nichts wird passieren, jedenfalls nicht morgen, nächste Woche oder selbst im nächsten Jahr. Wir müssen geduldig sein«, sagt Alliet und zieht seine Schultern hoch. Er begleitete auch schon die vorherigen Proteste, er kennt die Nöte der Sans-papiers und teilt seine Wohnung mit einigen von ihnen. »Ich bin nicht nach Brüssel gekommen, um ein klassischer Priester zu sein. Katholisch zu sein, hat ein weites Feld an Bedeutungen hier.«

Seit dem ersten Tag der Besetzung schläft Nezra in der Kirche. Aufgeben kommt für sie nicht in Frage: »Mir macht nichts mehr Angst. Ich sterbe lieber, als dass ich wieder so arbeite wie bisher«, sagt Nezra, ihre haselnussbraunen Augen blicken entschlossen. Sie und die anderen wollen bleiben. Egal, wie lange es dauert. Ob sie das überhaupt können, bleibt offen. Denn eine Menschenansammlung wie diese verstößt gegen die geltenden Corona-Regeln. Der zuständige Bürgermeister der sozialistischen Partei ließ vernehmen, dass er die Kirche jetzt einfach als Sportstätte betrachtet, wo sich nach aktuellen Maßregeln immerhin 150 Menschen treffen dürfen. Ob er nur eine Räumung im Winter vermeiden wollte oder die Protestierenden tatsächlich gewähren lassen möchte, ist unklar.

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