Groß geworden im Hochhaus

Die Fischerinsel in Berlin-Mitte war einmal eine besondere Ecke Ostberlins – vor allem für Kinder

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 3 Min.

Auf der Fischerinsel lässt die Wohnungsbaugesellschaft Mitte 210 neue Wohnungen errichten. Vorher wird dort eine bei archäologischen Grabungen entdeckte mittelalterliche Latrine geborgen. An diesem Mittwoch soll ein Schwerlastkran das jahrhundertealte Ziegelbauwerk umsetzten. In dieser Meldung verbinden sich Vergangenheit und Zukunft – so wie auch in Andreas Ulrichs neuem Buch »Die Kinder von der Fischerinsel«.

Die Familie des Rundfunkreporters zog 1970 in einen der am Ende sieben neuen Plattenbauten vom Typ WHH GT 18. Die Abkürzung steht für Wohnhochhaus in Großtafelbauweise mit 18 Geschossen. DDR-Prominente wie der Fernsehjournalist Günter Herlt, Kinderbuchautor Benno Pludra, Schlagersängerin Regina Thoss und die Schauspieler Herbert Köfer und Dean Reed haben dort gewohnt. Auch Markus Wolf, Chef der DDR-Auslandsspionage. Westliche Geheimdienste suchten damals dringend ein aktuelles Foto des Mannes, der auf der Fischerinsel mit Kindern und Enkeln spazieren ging. »An keinem Ort in der DDR wohnten einst so viele VIPs wie in dieser Hochhaussiedlung«, schreibt Ulrich. In einem Brief an SED-Generalsekretär Erich Honecker drohte die Lyrikerin Sarah Kirsch, aus dem Fenster zu springen, wenn sie nicht ausreisen dürfe. Sie formulierte es verklausulierter: Sie wolle in den Westen und wohne übrigens in der 17. Etage. Darüber, wie die Prominenten hier lebten, ließe sich sicher auch ein Buch schreiben.

Doch Ulrich erwähnt das eher am Rande. Im Mittelpunkt stehen für ihn die Kinder, mit denen er seinerzeit die Schule besuchte. Der Sohn von Sarah Kirsch ist auch darunter, aber meistens sind es die Kinder von weniger oder gar nicht bekannten Eltern. Einige gingen später selbst zum Film oder zum Fernsehen, andere wurden Chauffeur oder S-Bahnfahrer.

Ulrich hat sie aufgesucht und und mit ihnen gesprochen, hat oft festgestellt, wie wenig er doch oft bis dahin von ihnen und ihren Familien wusste und ihre Lebenswege skizziert. Seine Texte beweisen, dass jeder Mensch interessant ist und etwas zu erzählen hat. Es kommt nur darauf an, genau hinzuhören. Auch mit Angehörigen hat der Autor gesprochen, wie im Fall von zwei Mitschülerinnen, die bereits gestorben sind.

Los geht es mit Donald, der über seinen Vater erzählt: »Nach dem Krieg ergriff er die Chance, die er als Arbeiterkind normalerweise nie gehabt hätte.« Der Vater studierte, wurde Bauingenieur, ein typischer Beruf für die DDR. Er leitete dann die Handelsvertretung in Damaskus und so verlebte Donald dreieinhalb Jahre seiner Kindheit in Syrien – eine besondere Zeit.

Das Buch endet mit Ann-Maren, die auf ihren Mitschüler Andreas Ulrich geheimnisvoll wirkte, nicht zuletzt wegen ihres schwedischen Familiennamens. Bevor sich alles aufklärt, taucht die Frage nach Ann-Maren immer wieder auf und macht auch den Leser neugierig. Aber jedes Kapitel macht Lust auf Weiterlesen. Da ist etwa Annette, die Tochter des westdeutschen Schauspielers Wolfgang Kieling, dem 1968 der Satz rausrutschte: »Dann gehe ich eben dorthin, wo der Vietnamkrieg nicht unterstützt wird, in die DDR!« Er machte es wahr, kehrte aber nach ein paar Jahren in den Westen zurück.

Die Fischerinsel zeigt sich in dem Buch je nach Gesprächspartner und Sichtweise als grau und trist oder das glatte Gegenteil davon. Und bei der Tristesse ist auch noch die Frage, ob die Zeit vor der Wende oder danach gemeint ist. Denn nach der Wende wurden viele Nachbarn arbeitslos. So spürte Jörg, eines der Kinder von der Fischerinsel, in dieser Zeit bei den Bewohnern »eine schwermütige Mischung auf Trauer, Ratlosigkeit und Wut«.

Andreas Ulrich: Die Kinder von der Fischerinsel, be.bra, 224 Seiten, 20 Euro

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