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»In Deutschland hat es Tradition, die Gebärdensprache zu ignorieren«
Julia Probst setzt sich bei den Grünen für mehr gesellschaftliche Teilhabe von Gehörlosen ein. Ihre Vision ist, dass die Gebärdensprache in Deutschland auch Amtssprache wird
Frau Probst, wie sind Sie zu den Grünen gekommen?
Mein politisches Herz schlug schon immer sehr ökologisch-links. Für die Stadtratswahl in meiner Stadt hat mich der Kreisvorstand der Grünen angesprochen und gefragt, ob ich mir vorstellen könnte zu kandidieren. Die Wahl fand im März 2020 statt. Leider hat es ganz knapp nicht geklappt.
Haben Politiker*innen in Deutschland persönliche Gebärdendolmetscher*innen, die sie zu Terminen begleiten?
Nein, nicht direkt. Natürlich gibt es Teams von Gebärdensprachdolmetscher*innen, die gerne von den Parteien beauftragt werden. Aber es gibt bisher noch keine festen Gebärdensprachdolmetscher*innen bei den Parteien, also Leute, die man durchgehend sieht und als »grüne« Gebärdensprachdolmetscher*in identifizieren kann.
Die 39-Jährige ist 2010 überregional bekannt geworden, als sie unter dem Hashtag #Ableseservice Fußballern und Trainern bei der Weltmeisterschaft die Worte von den Lippen las und diese veröffentlichte. Sie engagiert sich bei den Grünen für mehr politische Teilhabe von Gehörlosen und hat einige Wünsche an Annalena Baerbock.
Wie ist das in anderen Ländern?
In Neuseeland hat die Premierministerin Jacinda Ardern ihren eigenen Dolmetscher, der sie überall hin begleitet. In einem Video kann man sehen, wie diese Arbeit funktioniert und was da alles mit dran hängt. Aber dazu muss man auch wissen, dass in Neuseeland die Neuseeländische Gebärdensprache auch Amtssprache ist.
Was würden Sie sich von der Kanzlerkandidatin ihrer Partei wünschen?
Ich habe die Vision, dass Annalena Baerbock die erste Kanzlerkandidatin und Bundeskanzlerin ist, die bei ihren Reden und Veranstaltungen immer und überall eine*n Gebärdensprachdolmetscher*in dabei hat. Das wäre ein starkes Signal an die Gesellschaft, dass Kommunikation nicht nur in Lautsprache stattfindet.
Wie ist die Lage Deutschlands im globalen Vergleich einzuordnen, was die Gebärdendolmetschung von politischen Reden oder Debatten im Bundestag betrifft?
Schlecht. In Deutschland hat es eine lange Tradition, die Gebärdensprache zu ignorieren. So gibt es bis heute keine bundesweite Vorschrift für Student*innen der Gehörlosenpädagogik, die Gebärdensprache verpflichtend für das Studium zu lernen und beim Abschluss des Studiums einen Nachweis vorzulegen, dass man mindestens B2-Niveau beherrscht. Ein anderes Beispiel ist, dass bis in die späten 80er Jahre gehörlose Kinder an den Schulen auf die Finger gehauen wurde, wenn sie gebärdeten.
Können Sie auch ein ganz aktuelles Beispiel nennen?
Bereits am 26. Februar 2020, als mir klar wurde, welche Katastrophe zu erwarten ist, habe ich den Gesundheitsminister Jens Spahn gebeten, die Pressekonferenzen und Informationen zu Corona barrierefrei, in Gebärdensprache, bereitzustellen. Es wurde nicht darauf reagiert. Erst nach heftigen Protesten und einer konzentrierten Medienaktion von mir und meinen Mitstreiterinnen hat man darauf reagiert. Die Bundespressekonferenzen finden heute mit Gebärdensprache statt, ebenso die Konferenzen des Robert Koch-Instituts.
Ist dann jetzt alles gut?
Nein. Wir stehen heute noch vor dem Problem, dass die Pressekonferenzen der Bundesregierung im Fernsehen nicht mit Gebärdensprache sind, sondern die mit Gebärdensprache nur im Internet gezeigt werden. Die Bundesregierung selbst verpflichtet das Fernsehen nicht, das Fernsehsignal aus dem Bundeskanzleramt mit Gebärdensprache zu senden und das ist in meinen Augen eine klare Diskriminierung. Bisher wird im Bundestag nur der Donnerstag in der Kerndebattenzeit gedolmetscht, die Regierungsbefragung und behindertenpolitsche Themen außerhalb der Kerndebattenzeit. Das ist aber auch erst seit wenigen Monaten so, dass der Bundestag mehr als nur die Kerndebattenzeit dolmetscht.
Das heißt, in erster Linie werden nur behindertenpolitische Themen in Gebärdensprache gedolmetscht?
Ja. Es ist aber ja so, dass Gehörlose ja nicht nur Interesse haben an behindertenpolitischen Themen. Ich warte noch darauf, dass der Bundestag, wie bereits 2018 angekündigt, komplett in Gebärdensprache gedolmetscht wird, an allen Sitzungstagen und Debatten.
Wie gut können gehörlose Menschen also insgesamt an der Politik teilhaben?
Wie gesagt: Schlecht. Es ist ja gut, dass so um das Jahr 2012 herum die Parteien nach und nach anfingen, die Parteitage zu dolmetschen. Zuerst waren es die Piraten, dann die Grünen, dann die SPD, die Linke und die CDU. Am längsten hat sich die FDP geweigert, die hatten erst 2020 auf ihrem Parteitag Gebärdensprachdolmetscher*innen - jetzt hat die FDP eine Gemeinsamkeit weniger mit der AfD: Die weigern sich bis heute barrierefrei aufzutreten.
Wie ist das in anderen Ländern?
Naja, wenn man nach Ägypten schaut und merkt, dass dort alle Nachrichtensendungen und politischen Debatten in Gebärdensprache im Fernsehen gedolmetscht werden, dann merkt man schon, wie rückständig Deutschland ist. Wir sind in Sachen barrierefreiem Zugang zu Informationen und Inklusion wirklich ein Entwicklungsland. Mich würde es nicht wundern, wenn Deutschland demnächst bei der Staatenprüfung zur Überprüfung der Einhaltung der UN-Behindertenrechtskonvention mal wieder katastrophal abschneiden wird.
Sind Gebärden weltweit ähnlich? Ist es also recht einfach, Menschen aus Indien, den USA oder Australien zu verstehen?
Nein, jedes Land hat seine eigene Gebärdensprache, die natürlich auch eigene Dialekte hat, wie die Lautsprache. Dennoch ist es für Gehörlose weltweit einfach, sich zu verständigen, weil Gebärdensprachen einen festen Aufbau haben. Außerdem gibt es noch die International Sign.
Gibt es bestimmte Gebärden für die Namen Scholz, Laschet, Baerbock? Wer legt die wie fest?
Den Film »Der mit dem Wolf tanzt« kennen Sie, oder? Den Klassiker muss man einfach kennen. Es ist bei uns genauso, wie bei den Ureinwohnern: Die Gemeinschaft legt ihn fest.
Okay. Das heißt: Herr Scholz hat nicht die gleiche Gebärde, wie irgendein anderer Mensch, der auch Scholz heißt?
Nein.
Können sich Gebärden auch ändern?
Ja, natürlich.
Für jemanden, der mit der Gebärdensprache nicht vertraut ist, ist das schwer vorstellbar. Ist das in etwa so, wie wenn sich der Spitzname von jemanden ändert?
Namensgebärden können sich ändern. Beispielsweise wenn der Träger sich nicht mehr wohl damit fühlt oder sich stark verändert hat. Meine Namensgebärde ist übrigens »Die mit den langen Wimpern«. Mein Lebensgefährte zieht mich manchmal damit auf, dass ich auch gut »Die sich an der Nase rubbelt« heißen könnte, weil ich das tue, wenn ich stark konzentriert bin. Ich habe da echt Glück gehabt mit meiner Namensgebärde!
Welche Probleme gibt es für gehörlose Menschen bezüglich der Corona-Pandemie?
Ich fände es wichtig, dass gehörlose Menschen, unabhängig vom Alter und Vorerkrankungen, geimpft werden, denn kommunikativ stellt die Maskenpflicht Gehörlose und das medizinische Personal vor ein großes Problem. Diese Situation ist sehr belastend für beide Seiten - auch kann ein*e Gebärdensprachdolmetscher*in zwar angefordert werden, aber aufgrund des Mangels an verfügbaren Gebärdensprachdolmetscher*innen kann es Stunden bis Tage dauern, bis eine*r kommen kann.
Was muss sich in Deutschland ändern, damit mehr Inklusion für gehörlose Menschen stattfinden kann?
Deutschland sollte einfach die UN-Behindertenrechtskonvention strikt befolgen, mehr müssen die Bundesregierungen und die Landesregierungen nicht tun. Das Glück von uns Menschen mit Behinderungen war, dass die Bundesregierung damals, 2009, überhaupt nicht verstanden hat, was sie da eigentlich unterschrieben hat. Sie hat uns damit den Anspruch auf die Rechte gegeben, die wir lieber nicht haben sollten, wenn man sich so die Debatten im Bundestag dazu anhört.
Was würden Sie sich noch wünschen, um besser politisch teilhaben zu können?
Die Anerkennung der Gehörlosen als kulturelle Minderheit mit eigener Minderheitssprache und Deutsche Gebärdensprache als Amtssprache in Deutschland. Bisher ist sie leider nur gesetzlich als eigenständige Sprache anerkannt. Ich habe, wie gesagt, die Vision, dass die zukünftige Bundeskanzlerin Annalena Baerbock am 27. April 2022, also genau 20 Jahre nach der gesetzlichen Anerkennung der Gebärdensprache als eigenständige Sprache, die Anerkennung auf ein neues Level hebt: mit der Gebärdensprache als Amtssprache oder Minderheitssprache und der Anerkennung von Gehörlosen als eine kulturelle Minderheit. Vielleicht wird das ja wahr? Wir versuchen es ja gerade im Wahlprogramm der Grünen durchzubekommen. Es wäre ein Riesenschritt und ein fantastisches Angebot einer neuen Politik, die wirklich alle Menschen mitnehmen möchte.
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