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Krisenzeit
Linke Bewegungen auf der Suche nach Antworten
Mittwochabend in Berlin. Rund 600 linke Demonstrant*innen ziehen durch die Neuköllner Hasenheide, sie kritisieren die jüngst beschlossenen Ausgangssperren als »autoritäres Placebo«. Ein Redner fordert lautstark unter Applaus »Wir brauchen endlich eine linke Antwort!« Diese an sich richtige Feststellung beinhaltet eine größere Dimension als es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn sie impliziert zum einen, dass es bisher offenbar keine wirklich guten linken Antworten gab oder diese zumindest nicht ausreichend wahrgenommen wurden. Dazu wirft sie die Frage auf, womit genau wir denn derzeit konfrontiert sind. Ebenso fragt sie, was denn notwendige linke Antworten sein müssten.
Verschiedene progressive Bündnisse und Gruppen versuchen sich in Anbetracht der multiplen Krise unserer Zeit (ökonomisch, ökologisch, gesundheitlich, sozial, institutionell) an konkreten Vorschlägen. Das Bündnis »Wer hat, der gibt« fordert eine solidarische Umverteilung der Corona-Krisenkosten. Jüngst haben 100 Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen einen offenen Brief an die Bundesregierung verfasst. Darin fordern sie »eine langfristige Umverteilung des Reichtums von oben nach unten«, unter anderem durch höhere Steuern für Erbschaften, Schenkungen und Betriebsvermögen, eine einmalige Vermögensabgabe, einen EU-weiten Mindeststeuersatz für Unternehmen sowie eine höhere Einkommenssteuer für besonders hohe Einkommen. Die Unterschriftenliste des Briefes zeugt von der gelungenen Bündnispolitik der Initiative. Breite Unterstützung scheint jedoch auch notwendig, die Union versucht bereits, mit der Idee eines späteren Renteneintrittsalters die Krisen-Kosten auf die Lohnabhängigen abzuwälzen.
Dieser Text stammt aus unser Wochenendausgabe. nd.Die Woche nimmt Geschehnisse in Politik und Gesellschaft hintergründig unter die Lupe. Politische und wirtschaftliche Analysen, Interviews, Reportagen und Features, immer ab Samstag am Kiosk oder gleich mit einem Wochenendabo linken Journalismus unterstützen.
Die soziale Schieflage zeigt sich dabei jetzt schon, vor allem in der Wohnungsfrage - durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Berliner Mietendeckel de facto zum bundesweiten Wahlkampfthema erhoben. Finanzielle Probleme der Haushalte durch die Coronakrise in Kombination mit weiterhin rasant steigenden Mieten in Großstädten sorgen für enormes Konfliktpotenzial. Die Berliner Vergesellschaftungskampagne »Deutsche Wohnen & Co enteignen« strahlt jedoch weit, das Bündnis »Bundesweiter Mietenstopp, jetzt!« bringt sich für einen bundesweiten Mietendeckel in Stellung.
Die Kampagne Zero-Covid für einen solidarischen Lockdown richtet wiederum ihren Fokus nun vor allem auf das Runterfahren der Wirtschaft und fordert einen dreiwöchigen bezahlten Urlaub für alle nicht-systemrelevanten Berufe(»nd« berichtete). Einzelne Gewerkschafter*innen wie auch Sektionen unterstützen das Vorhaben, von den großen Gewerkschaftsspitzen kommt eher Skepsis, laut Verdi ziele das Projekt »an der Realität vorbei«. Zero-Covid ruft nichtsdestotrotz auf, auch explizit am 1. Mai für einen Strategiewechsel in der Coronapolitik aktiv zu werden. Man solle unter den Hashtags MaydayMayday und ZeroCovid in sozialen Medien erklären, warum ein solidarischer Shutdown notwendig sei - und wenn man könne, solle man den Protest auch mit Ortsgruppen und Gewerkschaften auf die Straße tragen. »Mit einer geschädigten Lunge, mit monatelangem Long Covid und neurologischen Spätfolgen oder gar tot bringt uns auch ein höherer Lohn nicht viel«, heißt es im Aufruf.
Auf einer größeren Ebene arbeiten derweil das »unteilbar«-Bündnis, Fridays for Future sowie Verdi an einer gemeinsamen Kampagne für eine sozial-ökologische Transformation. Anfang Februar wurde die Kooperation öffentlich, Aktionen und Organisierung sollen demnach vor allem auf dezentraler Ebene stattfinden. Bei Gelingen könnten diese Bündnisse einen enormen Machtfaktor darstellen und vermutlich sichtbar auf die gesellschaftliche Stimmung einwirken - vor allem im Hinblick auf die Bundestagswahl, aber auch darüber hinaus. Um bei den diesjährigen ostdeutschen Landtagswahlen eine solidarische Perspektive zu stärken, hat unteilbar zudem neue Lokalbündnisse in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern gegründet. Die Zivilgesellschaften sind hier weiter in Bedrängnis und benötigen Unterstützung.
Über allem schwebt schließlich die Gefahr des Rechtsrucks, ob durch Querdenken, extrem rechte Netzwerke in Behörden, Bündnissen zwischen Konservativen und der AfD - oder auch bürgerliche Feuilletondebatten, die rechte Erzählungen stärken. Der Sprengstoff ist groß - linke Aktivist*innen fragen sich, was zu tun ist. Hannah Eberle, ehemalige Blockupy-Sprecherin, heute Mitarbeiterin der Zeitung »Analyse und Kritik« und aktiv bei der »Interventionistischen Linken«, ist eine von ihnen. Für sie hat die Pandemie die Linke weltweit vor Herausforderungen gestellt, »weil ein Sprechen über ›mehr Freiheit‹ zu einem menschlich-verwerflichen, arroganten und sehr weißen Öffnungsdiskurs führte und weil zugleich ein Sprechen über ›mehr Solidarität‹ zu häufig zu selbsteinschränkender Isolation und reiner Diskursintervention führte«, sagt die Aktivistin dem »nd«. So könne kein Kampf um etwas, sondern nur ein »stayathome«, ein zu-Hause-Bleiben, entstehen. »Gerade Armutsbetroffene, Geflüchtete in Lagern und Care-Arbeiter*innen haben davon wenig, werden ihre Interesse doch von Staatsseite grundsätzlich hintenangestellt.«
Für Eberle hat es die gesellschaftliche Linke nicht geschafft mit Wut, und organisiert, notwendige Veränderungen einzufordern, »wie Luftfilter in Klassenzimmern, kostenfreie Kultur im Freien oder dauerhaft geöffnete Wohnungslosenunterkünfte mit Einzelzimmer«. Es werde kein »nach der Pandemie geben«, betont die Aktivistin. Die Einführung von Impfpässen, die weltweite Ungleichverteilung der Impfstoffe oder die drohenden Sparpakete hätten klare Folgen: »Migrationsbewegungen werden stärker, lokale und weltweite Ungleichheit spürbarer.« Mit Blick auf 2022 und 2023 sehne sich die Aktivistin nach neuen »europäischen Frühlingen«. »Wir müssen unbedingt den Mut und die Klugheit finden, wieder größer zu denken und uns dem endlich wieder transnational stellen.«
Jan Schlemermeyer, vormals unter anderem bei Blockupy aktiv und derzeit im Bereich Strategie und Grundsatzfragen der Linkspartei beschäftigt, erwartet indes eine »neue Konjunktur sozialer Auseinandersetzungen«. Einerseits sei es mit unteilbar, Klimaprotesten und antirassistischen Protesten gelungen, den Durchmarsch der neuen Faschisten und ihrer Freund*innen infolge der Niederlage der linken Krisenproteste wie Blockupy vorerst zu stoppen. »Auch wenn die Corona-Mobilisierungen von Rechten und Esoterikern deutlich gemacht haben, wie schnell der wieder Fahrt aufnehmen kann und ein weiterer Versuch zum Dammbruch nicht ausgeschlossen ist«, betont Schlemermeyer.
Zugleich scheine klar, dass der Versuch der herrschenden Politik- und Kapitalfraktionen, mit einer »sanften ökologischen Modernisierung« das bestehende Geschäftsmodell in Europa zu stabilisieren, seine Krisen nicht lösen werde, gerade in Anbetracht der knappen Zeit. »Es wird nicht mehr reichen, auf antifaschistische Defensive und einen unteilbaren Minimalkonsens zu setzen, wir brauchen eine linke Offensive über die Teilbereiche hinaus, die das ›dunkelrot‹ in einer potenziellen grün-rot-roten Entwicklung so stark wie eben möglich macht«, sagt der Aktivist.
Ziel müsse hier sein, über die »liberalen Verkürzungen aktueller Anerkennungskämpfe« materiell hinauszugehen - anstatt dahinter zurückzufallen und sich etwa auf den Nationalstaat zurückzuziehen. Dafür brauche es jetzt Parteien wie Bewegungen, die sich nicht mit »sozialistischer Folklore und Fragen der reinen Lehre« beschäftigen, sondern sich praktisch mit den Reichen und Mächtigen anlegen. »Denn jeder Green New Deal, der etwas taugt, muss gegen massive Widerstände von Vermögensbesitzer*innen, Kapital und seinen Profiteur*innen durchgesetzt werden.« Wie es auch kommen wird, der Welt stehen wohl turbulente Zeiten bevor.
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