Das Unvorstellbarkeitsvermögen

Die Pandemie zeigt, dass die Menschheit immer mehr Wissen hervorbringt - und nicht allzu viel damit anzufangen weiß

  • Bini Adamczak
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Alltag der globalen Menschheit wird von Wesen bestimmt, die kleiner als eine halbe Lichtwelle sind, sich bereits seit Milliarden von Jahren vermehren und sich um den Unterschied zwischen Menschen und anderen Tieren wenig scheren.

Das ist, obwohl wahr, schwer vorstellbar. Und von wenigen Ausnahmen abgesehen hatte es sich auch niemand vorgestellt. Noch vor zwei Jahren hielt kaum jemand im Westen einen Lockdown für möglich, Atemschutzmasken galten als Marotte von Asiatinnen, Seuchen mehr als Film- denn als Unterrichtsstoff. Dann kam alles anders als gedacht, und dennoch hat sich nicht viel geändert. Dass eine Situation eingetreten ist, die zuvor als unvorstellbar galt, hat das Vorstellungsvermögen nicht erweitert. So wenig im Jahr 2019 vorstellbar war, dass 2020 so eintreten würde, wie es eingetreten ist, so wenig scheint es im Jahr 2021 vorstellbar, dass 2020 auch hätte anders laufen können: Die Katastrophe ist eine der Natur; Hunderttausende Tote sind bedauerlich, aber leider unvermeidbar. Es kam, wie es kommen musste, da kann es jetzt nicht anders gehen.

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Das eine ist allerdings so falsch wie das andere. Dass die Pandemie nicht unmittelbar von Menschen begonnen wurde, bedeutet nicht, dass sie nicht mittelbar von Menschen beendet werden könnte. Ein frühzeitiger Lockdown im Frühjahr 2020 hätte die 1. Welle stoppen können. Verfrühte Lockerungen im Frühling haben zur 2. Welle geführt. Ein frühzeitiger Lockdown im Herbst hätte die 2. Welle stoppen können. Verfrühte Lockerungen im Frühjahr 2021 verstärkten die 3. Welle, die sich in Deutschland bereits im Lockdown aufgebaut hat. Je weniger Änderungen die Regierenden vornehmen wollten, umso mehr Änderungen mussten sie hinnehmen; je mehr sie sich an ihre Normalität geklammert haben, umso mehr ist sie ihnen entglitten.

Aber das verkümmerte Vorstellungsvermögen reicht nicht nur nicht in den Möglichkeitsraum hinein, es reicht auch nicht aus dem Euroraum heraus. Mehr noch, es kommt nicht mal über den Vorgartenzaun der nächsten Ländergrenze rüber. Die Idee, das Virus würde es vielleicht gar nicht aus dem fernen China bis nach Europa schaffen, ließ sich noch mit der Erfahrung der vorangegangenen Epidemien rechtfertigen, die regionaler geblieben waren. Aber selbst als die Ausbrüche in Norditalien unübersehbar wurden, erzählten sich deutsche Politikerinnen und Journalistinnen die Lüge, nur wenige Hundert Kilometer nördlich davon könne nichts Ähnliches passieren - wegen dem überlegenen Gesundheitssystem und so. Es brauchte die faktische Ausdehnung der Pandemie, um darüber zu informieren, dass Nationalgrenzen für Viren schlicht nicht existieren.

Welche Lehre zog die westliche Öffentlichkeit daraus? Nun, da sie nicht länger leugnen kann, dass sich das Virus von asiatischen auf europäische Menschen übertragen lässt, leugnet sie umso heftiger, dass sich die Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus von asiatischen auf europäische Gesellschaften übertragen lassen. Dafür ist jede herbeigezogene Begründung recht: Insel, Diktatur oder doch irgendwie Mentalität. Weltweit sind nach offiziellen Zahlen bisher 3,3 Millionen Menschen an Covid-19 gestorben. Die aus der weltweiten Übersterblichkeit berechnete Zahl liegt sogar mehr als doppelt so hoch; aber in jedem Fall wären noch sehr viel mehr Menschen gestorben, hätten die ostasiatischen und ozeanischen Länder die Pandemie so bekämpft wie der Westen.

Wenn allein das bevölkerungsreiche China die gleiche Corona-Politik verfolgt hätte wie das kleine Deutschland, dann wären dort bis heute weitere 1,4 Millionen Menschen an Covid-19 gestorben - deutlich mehr als ein Drittel der weltweiten Toten. (Das zeigt nebenbei auch, dass die westliche Diskussion darum, ob in China Statistiken gefälscht wurden, ein Ablenkungsgefecht ist. Selbst wenn die tatsächliche Zahlen doppelt oder auch zehnmal so hoch wären wie die der offiziell 4600 Corona-Toten, wären sie immer noch verschwindend gering im Vergleich zu Europa oder den USA.)

So oder so, eine verfettete Lethargie bestimmt die Politik: Es ist nicht möglich, die Pandemie zu beenden, es ist vielmehr nötig, mindestens zwei Jahre lang von Lockdown zu Lockdown zu stolpern, das soziale und kulturelle Leben einzufrieren und den vermeidbaren Tod von Hunderttausenden Menschen hinzunehmen.

Für eine andere Klimapolitik ist es nötig, in einem Bezugsrahmen von 30 Jahren zu denken, aber für die erfolgreiche Bekämpfung der Pandemie reicht ein Rahmen von drei Monaten oder gar drei Wochen - mehr braucht es nicht, um die Infektionszahlen radikal zu senken. Für eine andere, ökologisch nachhaltige Wirtschaftsorganisation braucht es einiges an Vorstellungskraft - aber wie viel Vorstellungskraft ist eigentlich nötig, um ein Foto von einem überfüllten Club in Wuhan, einem Tennisturnier in Australien, einem Konzert in Neuseeland anzustarren? Wer kann sich denn nicht in die Situation hineinversetzen, in einer Bar zu sitzen?

Weniger als 100 Jahre liegen zwischen dem Tag, an dem ein Virus zum ersten Mal direkt beobachtet wurde, und dem Tag, an dem es an seiner Fortpflanzung gehindert, in ein anderes Virus eingebaut oder geteilt und in Fettkügelchen (Lipidnanopartikel) verpackt werden kann. Doch dieselbe Menschheit, die gleich mehrere Impfstoffe zu entwickeln vermag, schließt sogleich einen Großteil ihrer Mitglieder mittels Patentrecht von deren Gebrauch aus. Die deutsche Regierung hält selbst dann noch daran fest, wenn die USA sich hier bewegen. Was sind schon Leben und Gesundheit von einigen Millionen Ausländern wert im Vergleich zum deutschen Kapital? Noch in der radikalen Erfahrung von Gleichheit angesichts einer erdumspannenden Gefahr scheint nichts wichtiger zu sein, als die Ungleichheit zu erhalten.

Das unterscheidet die historische Situation, die wir erleben, von den filmischen Vorlagen, wo eine allgemeine Bedrohung die Konkurrenten aller Länder zur Besinnung kommen lässt und die Menschheit vereint. Vielleicht rührt ein Teil der Verwirrung angesichts des fortgesetzten Irrsinns auch daher. Auch eine unvorhergesehene und unvorgestellte Katastrophe reicht nicht aus, um erweiterte Einsichten zu stiften - zumindest nicht, sofern diese Einsichten eine Abkehr von der vermachteten Normalität verlangen sollten. (Wenn es nur um eine Rückkehr zur Normalität geht, kann das hingegen schon mal klappen. Wie in der Kubakrise, als die Oberhäupter der Weltmächte gerade noch mal davon absahen, die Welt in einem nuklearen Krieg zu versenken. Aber hätten sie so auch entschieden, wenn den Weltkrieg zu verhindern bedeutet hätte, die bisherige Lebensweise zu ändern?) Wären die Mächtigen nicht bereit, die Welt in einen Schrotthaufen zu verwandeln, solange sichergestellt bleibt, dass sie mehr Schrott erhalten als ihre Nachbarinnen?

Das Virus, das nur wenige Wochen gebraucht hat, um von Menschenmund zu Menschenmund einmal um die Erde zu reisen, hat einen Begriff der Menschheit in Erinnerung gerufen, der in der subalternen Philosophie, auf dem indischen Subkontinent oder dem afrikanischen Kontinent, lebendig ist, aber in Europa oder den USA in Vergessenheit gehalten wird. Gleichzeitig gleich und ungleich.

Es ist dieselbe Menschheit, die immer mehr Wissen über immer kleinere Bereiche hervorbringt, und nicht allzu viel mit diesem Wissen anzufangen weiß. Dieselbe Menschheit, die mit tagesgenauer Präzision pandemische Wellen prognostiziert - und bei jeder neu überrascht ist, wenn sie tatsächlich eintritt. Dieselbe Menschheit, die mit den mRNA-Verfahren beginnt, organische Nanomaschinen zu bauen, und immer noch Kohle aus dem Tagebau kratzt, um sie an der Luft zu verfeuern. Dieselbe Menschheit, die ihre ununterbrechbare Verbundenheit mit Fledermäusen, Hunden, Nerzen erkennt und weiterhin meint, nichtmenschliche Tiere aus ihrer geschlossenen Gesellschaft heraushalten zu können. Dieselbe Menschheit, die immer verfeinertere Produktivkräfte entwickelt und sich durch die immer selben Produktionsverhältnisse um deren Genuss bringen lässt. Denn es ist das anhaltende Drama des Kapitalismus, das diese Menschheit aufführt, wenn sie nur ein Jahr braucht, um mehrere Impfstoffe zu entwickeln, die eine tödliche Krankheit in eine milde Erkältung verwandeln, aber mindestens drei Jahre, um sie auch den Armen zu geben.

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