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Schottlands Steuerfrau
Nicola Sturgeon ist ein politisches Ausnahmetalent und arbeitet beharrlich auf die Unabhängigkeit ihres Landes hin
Vor gerade einmal zwei Monaten drohte der politischen Karriere von Nicola Sturgeon ein abruptes Ende. Ein giftiger Streit mit ihrem Vorgänger Alex Salmond gipfelte darin, dass die schottische Regierungschefin beschuldigt wurde, den ministeriellen Kodex verletzt zu haben. Sturgeon wurde vorgeworfen, Vorwürfe der sexuellen Belästigung gegen Salmond nicht rechtzeitig den relevanten Stellen gemeldet zu haben. Hätten sich die Vorwürfe bestätigt, wäre der Frau, die Schottlands Zukunft in der Hand hält, nur der Rücktritt geblieben. Doch Sturgeon bestand auch diese Prüfung - in der achtstündigen Marathon-Befragung durch das Parlament trat sie so auf, wie man es von ihr gewohnt ist: argumentativ, präzise und wortgewandt, aber nicht überheblich. Das Parlament entlastete sie.
Acht Wochen später, am 6. Mai, feierte die Erste Ministerin einen der größten Triumphe. Mit dem Sieg der Schottischen Nationalpartei (SNP) in den Nationalwahlen haben die Separatisten ein wichtiges Etappenziel erreicht: Ein Parlament, das die Unabhängigkeit vom Königreich unterstützt. »Die Frage ist nicht ob, sondern wann« ein neues Referendum über die Unabhängigkeit stattfinde, warnte sie den britischen Premier Boris Johnson am vergangenen Wochenende.
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Bei solchen Ansagen dürfte Johnson mulmig werden. Dass das Damoklesschwert der schottischen Unabhängigkeit nun erneut über dem Vereinigten Königreich schwebt, ist nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, dass die schottische Politik seit sechs Jahren von einem politischen Ausnahmetalent geführt wird.
Angefangen hatte Sturgeons politische Reise mitten in der Regierungszeit von Margaret Thatcher (1979-1990). Die konservative Premierministerin war in Schottland besonders unbeliebt, weil sie etliche Industrien gegen die Wand fahren ließ. Sturgeon, 1970 in einfache Verhältnisse im Westen Schottlands hineingeboren, trat 1987 als Schülerin der SNP bei. Eine Abspaltung von England sah sie als einzige Möglichkeit, der Tory-Politik zu entkommen. Sie erlebte die damalige Zeit als »eine der Hoffnungslosigkeit«, wie sie Jahre später der BBC sagte.
Die SNP war in jenen Jahren zu einer weltoffenen Partei geworden: Die Separatisten wollten keine Abspaltung aus nationalistischem Impuls, sondern Eigenständigkeit, um ein sozialdemokratisches Schottland aufzubauen. Entsprechend setzte sich die SNP für »Unabhängigkeit in Europa« ein. Das passte gut zu Sturgeons progressiven Ansätzen.
An der Universität Glasgow studierte sie Recht und begann danach als Anwältin zu arbeiten. Aber bald wurde ihr die Politik wichtiger. 1999 wurde Sturgeon ins neu gegründete schottische Parlament gewählt. Bekannt als eher ernst und nüchtern im Umgang mit anderen, vielleicht sogar etwas distanziert, machte Sturgeon bald Eindruck auf der politischen Bühne. 2004 stieg sie zur Stellvertreterin von Alex Salmond auf, der die Parteiführung der SNP übernahm. Journalisten und Kommentatoren bemerkten, dass sich in jenen Jahren ihr persönlicher Stil änderte: Sturgeon debattierte weiterhin flink und scharf, aber sie wirkte zugleich umgänglicher und wärmer. Sie selbst meinte später, dass dafür ihr wachsendes Selbstbewusstsein verantwortlich gewesen sei.
Nach dem verlorenen ersten Unabhängigkeitsreferendum 2014, bei dem 55 Prozent für den Verbleib im Vereinigten Königreich stimmten, wurde Sturgeon zur Ersten Ministerin gewählt. Bald war klar, dass mit ihr eine clevere Strategin das Ruder übernommen hatte. Sie stellte ein Kabinett zusammen, das zur Hälfte aus Frauen bestand, und begann, eine effektive Opposition zur Sparpolitik der Tories in Westminster aufzubauen.
So machte sie die SNP zu einer schier unaufhaltbaren politischen Kraft. Bei den Wahlen zum britischen Unterhaus 2015 gewann die Partei 56 von 59 schottischen Sitzen. Ein Jahr später holte sie bei den Schottland-Wahlen erneut mit Abstand die meisten Stimmen. Wenige Wochen darauf erfolgte das Brexit-Votum - ein politisches Erdbeben, das die Möglichkeit eines zweiten Unabhängigkeitsreferendums in absehbarer Zeit aufs Tapet brachte.
Sturgeon schätzte ein, dass der EU-Austritt, den die Mehrheit der Schotten ablehnt, »das tiefe demokratische Defizit Großbritanniens bloßgestellt« hatte. Davon ausgehend forderte sie das Recht Schottlands ein, sich für »eine unabhängige europäische Nation« entscheiden zu können. Regelmäßig trieb sie konservative Engländer zur Weißglut. Der »Daily Telegraph« hat sie mal als Verräterin beschimpft und ihren Kopf gefordert.
Allerdings schienen die Schotten lange Zeit weniger von der Sezession begeistert als ihre Erste Ministerin - die Zustimmung zur Unabhängigkeit nahm nicht so stark zu, wie es sich Sturgeon ausgerechnet haben dürfte.
Das änderte sich, als der Vollzug des Brexit näher rückte und die Pandemie Einzug hielt. Die Realität des EU-Austritts überzeugte viele Schotten, dass die Abspaltung von England doch eine gute Idee wäre. Zudem trat Sturgeon in der Corona-Krise als sachkundige Kommunikatorin auf, was das Vertrauen der Schotten in ihre Regierungschefin stärkte. Sie zeige eine Authentizität, die sie von vielen anderen britischen Politiker abhebt, meint ihr ehemaliger Redenschreiber Andy Collier.
Die schwierigste Prüfung steht Sturgeon noch bevor. Jetzt geht es darum, aus dem Sieg vom 6. Mai die Konsequenzen zu ziehen. »Sie hat das ›Indyref2‹ versprochen, und jetzt muss sie es umsetzen«, schreibt Collier. Bislang hat sich Sturgeon von ihrer vorsichtigen Seite leiten lassen und es vermieden, die Kampagne für die Unabhängigkeit zu überstürzen. Sie will damit abwarten, bis die Umfragen auf eine stabile Mehrheit für die Eigenstaatlichkeit hinweisen. Aber der Druck innerhalb der Bewegung, ein solches Referendum anzusetzen, wächst von Tag zu Tag.
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