Leben in Büchern
Wer liest schon Biografien und Selbstauskünfte? Wozu?
Biografisches und Autobiografisches kann man als vertextete Hybris, Rechtfertigung oder Pflichtübung für Manager, Schlagersternchen und Politiker zur Kenntnis nehmen (Joschka Fischer: »Mein langer Lauf zu mir selbst«, Gerhard Schröder »Entscheidungen. Mein Leben in der Politik«, Sarah Wagenknecht: »Die Selbstgerechten«). Manchmal kommt auch ein Sachbuch als verkappte Autobiografie daher - wie Thilo Sarrazins »Deutschland schaff sich ab«, die davon erzählt, dass die rassekundliche Bibliothek seines Vaters unbeschadet den Umzug von Gera nach Recklinghausen überstanden, seine Mutter das Elitedenken deutscher Gutsbesitzer erfolgreich weitervermittelt hatte und man es mit guten Zensuren, Fleiß und pünktlicher Beitragszahlung in einer deutschen Arbeiterpartei (»Die Internationale erkämpft das Menschenrecht«) weit bringen kann.
Böse Zungen behaupten, es handle sich bei dem Genre Biografie und Autobiografie zumeist um den Versuch, die eigene - wichtige - Person im Lichte der Öffentlichkeit zu halten, wenn der Stern schon am Sinken ist. Dem wollen wir keinen Glauben schenken. Aber es stimmt schon: Selten währt die Halbwertszeit einer solchen Veröffentlichung länger als die Spanne zwischen Spargelsaison und Osterkuchenbackerei.
Dass der Blick in das Leben anderer Leute auch nach zwanzig oder mehr Jahren sich lohnen kann, beweisen die Interviews von Hans-Dieter Schütt, die wir (Achtung! Werbung!) in der hauseigenen nd-Edition herausgebracht haben, weil sie etwas zu sagen haben: über dieses Land und seine Bewohner, über die Zeiten und den Blick auf die Zeiten. Und ein bisschen auch über »Schütti«. Das Interview als Annäherung an eine Biografie, die Biografie als Instrument der Analyse eines handelnden Subjektes. Was tut das Subjekt, und warum? Und was ist von ihm zu erwarten (oder zu befürchten)? Fürchten müssen Sie sich vor den Selbstauskünften von Petra Pau und Klaus Lederer schon mal nicht. Aber erwarten dürfen Sie noch eine Menge.
(Auto-) Biografisches nimmt der Zeitgeschichte das Trockene der tabellarischen Ereignisaufzählung, das Abstrakte des Faktengerüsts. Denn zwischen den Fakten turnen Menschenwesen aus Fleisch und Blut, mit ihren Wünschen, Ängsten und Macken. Geschrieben mit dem entsprechenden Talent und dem nötigen Abstand zu Weichzeichnerei und Selbsterhöhung kann daraus Erkenntnis und Verständnis erwachsen. Für die kleinen und großen Dinge, für die Geschichte und für die Menschen in ihr.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine angenehme Lektüre.
In dieser Ausgabe:
- Hans-Dieter Schütt: Klaus Lederer. Die Sterne über Berlin
- Petra Pau: Gott hab sie selig
- Wiglaf Droste: Chaos, Glück und Höllenfahrten
- Rebecca Maria Salentin: Klub Drushba
- Maria Charlotte Wulff: Das Jahrhundert der Martha Jacoby
- Hans-Dieter Schütt: Als wär man der und der
- Jolanda Terenzio: 413 Tage
- Abbildungen aus: Éric Liberge & Arnaud Delalande: Der Fall Alan Turing
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