Christine und die andere Hälfte
Die Bücher Frauen vergeben erstmals einen eigenen Buchpreis
Was waren das noch für herrliche Zeiten, als breitbeinige Gockeltypen wie Marcel Reich-Ranicki und Hellmuth Karasek ganz selbstverständlich die Lufthoheit über den literarischen Stammtischen für sich beanspruchten und Sigrid Löffler aus dem »Literarischen Quartett« vergraulten. Ab und an durfte die Elke Heidenreich dort mal ein Gastspiel geben.
Muna AnNisa Aikins:
»Die Haut meiner Seele« (Unrast)
Anna Bers (Hg.):
»Frauen / Lyrik« (Reclam)
Henriette Dyckerhoff:
»Was man unter Wasser sehen kann« (Aufbau/Rütten & Loening)
Ava Farmehri:
»Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen« (Übersetzung: Sonja Finck, Edition Nautilus)
Hiromi Goto:
»Chor der Pilze«
(Übersetzung: Karen Gerwig, Cass)
Susanne Gregor:
»Das letzte rote Jahr«
(Frankfurter Verlagsanstalt)
Anna Katharina Hahn:
»Aus und davon« (Suhrkamp)
Mely Kiyak:
»Frausein« (Hanser)
Beatrix Kramlovsky:
»Die Lichtsammlerin« (hanserblau)
Christina Maria Landerl:
»Alles von mir« (Müry Salzmann)
Rebecca Solnit:
»Unziemliches Verhalten. Wie ich Feministin wurde«
(Übersetzung: Kathrin Razum, Hoffmann & Campe)
Das dürfte nur einer von vielen Gründen gewesen sein, dass sich 1990 das Branchennetzwerk Bücher Frauen e.V. nach dem Vorbild der englischen Women in Publishing bildete. Frauen im Literaturbetrieb sichtbar zu machen, ist das erklärte Ziel des Netzwerks. Etwa eintausend Verlegerinnen, Buchhändlerinnen, Übersetzerinnen, Autorinnen und andere Literaturmenschen sind mittlerweile im deutschen Verband aktiv. Dabei sind schreibende und Bücher produzierende Frauen kein Phänomen der Neuzeit, sie werden nur unsichtbar gemacht oder allenfalls als Rand- und Ausnahmeerscheinungen zur Kenntnis genommen. Die Literaturgeschichtsschreibung hat sich ihrer nur zögerlich angenommen, und es gibt noch reichlich weiße Flecken auf dieser Landkarte. Das ist kein explizit deutsches Problem; wenn Sie sich etwa eine US-amerikanische oder sowjetische Enzyklopädie von vor dreißig Jahren hernehmen, werden Sie sich in einer reinen Männerwelt wähnen.
Die Verdrängung hat also eine lange Tradition. Und so nimmt es nicht wunder, dass der dieses Jahr zum ersten Mal ausgelobte Bücher Frauen-Literaturpreis nach der spätmittelalterlichen Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Christine de Pizan (1364 - 1429) benannt wurde. Diese gilt als die erste Frau, die von ihrer schriftstellerischen Arbeit auch leben konnte und musste. Mit fünfzehn Jahren wurde sie verheiratet, nach dem Tode ihres Vaters und ihres Mannes hatte sie neben ihren eigenen drei Kindern noch ihre Mütter und zwei jüngere Geschwister zu versorgen. Sie schrieb Gedichte und Balladen, bald schon auch politische Traktate, einen »Fürstenspiegel« und ein Lehrwerk zur Mädchenerziehung. Ihr gesellschaftliches Umfeld kritisierte sie als ausgesprochen frauenfeindlich, die Mär von der Unterlegenheit der Frau als gedankenlose Nachplapperei kleiner Geister im Gelehrtengewand. Im »Buch von der Stadt der Frauen« und in der »Sage von der Rose« entwickelt sie eine Utopie einer gleichberechtigten und gewaltfreien Gesellschaft.
Der Auslobung des Preises ging eine lange und zähe Lobbyarbeit voraus, auf die die Politik nur zögerlich reagierte. Erst 2016 rief Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU), die manchem ihrer Parteifreunde schon als der feminine Gottseibeiuns gilt, einen Runden Tisch »Frauen in Kultur und Medien« zusammen.
Nachdem die Schlechterstellung von Frauen in Kultur und Medien nunmehr durch regelmäßige empirische Datenerhebungen handfest belegt wurde, leiten sich daraus auch konkrete Forderungen ab: etwa die nach paritätischer Besetzung von Gremien für die Vergabe von Preisen, Stipendien und Förderungen mit einer Rotationspflicht. Oder der steuerlichen Anerkennung von Stipendien, denn für die Absicherung bei der Künstlersozialkasse bedarf es einer solchen Einkommensart. Nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder auch der Überprüfung weiblicher Präsenz in Unterrichts- und Lehrmaterialien. Denke ich an meine eigene Schul- und Studienzeit in der doch recht fortschrittlichen DDR zurück, erkenne ich ein gewisses Manko, das noch nicht wirklich behoben sein dürfte.
Vergeben wird der Bücher Frauen-Literaturpreis »Christine« von einer dreiköpfigen Jury im November 2021. Nominiert werden die Werke aufgrund der Vorschläge von Regionalgruppen - auch ein guter Weg, um zentralistischer Cluster- oder Klüngelbildung vorzubeugen. Zugelassen sind deutschsprachige und ins Deutsche übersetzte Werke, die »durch sprachliche Kunstfertigkeit, inhaltliche Ausrichtung und gesellschaftliche Relevanz« Wirksamkeit entfalten. Die Nominierten stehen mittlerweile fest, in der Randspalte finden Sie die elf Titel, die im Rennen sind.
Auch wenn die Buchmesse aus bekannten Gründen keine Gelegenheit bietet, sich eingehender mit den Bücher Frauen bekannt zu machen, können Sie doch am 29. Mai die Gelegenheit nutzen, im Rahmen der alljährlichen Aktion indieverlagebesuchen Verlegerinnen zu sehen, wenn diese Sie online durch ihre Räume führen und von ihrer Arbeit erzählen. Beteiligt sind das Verlagshaus Berlin, Non Solo Verlag, SMM Leichte Sprache Verlag, Bedey und Thoms Media, Ariella Verlag, Familia Verlag, Berliner Querverlag, Parallelallee, Maroverlag, &Töchter Verlag und der Verlag Hermann Schmidt. Und wer sich ausführlicher mit dem Thema beschäftigen will, greife zur »Virginia Frauen Buch Kritik«, die gibt es im Buchhandel und im Abo.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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