Das schnellste setzt sich durch

Die Virologin Karin Mölling über die Evolution der Coronaviren und deren Bedeutung für die aktuelle Pandemie

  • Interview: Steffen Schmidt
  • Lesedauer: 8 Min.

Aktuell macht das Coronavirus Sars-CoV-2 vor allem durch die wachsende Zahl von Mutanten auf sich aufmerksam. Doch noch Mitte 2020 hieß es, Coronaviren würden sehr langsam mutieren. Worauf stützte sich diese Einschätzung?

Das Virus hat ein Reparatursystem, das ist bei Viren einmalig - wir Menschen haben das, aber Viren sonst nicht. Dazu gab es experimentelle Untersuchungen einer englischen Gruppe. Und die haben herausgefunden, dass bis dahin fast keine Mutationen aufgetreten sind. Das liegt an der Größe des Coronavirus. Es ist etwa dreimal so groß wie HIV oder das Influenzavirus und besitzt sehr umfangreiches Erbgut. Viren machen bei jeder Replikation (der Vermehrung in der Wirtszelle - d. Red.) Fehler. Und wenn es dann eben bei so einem großen Genom zu fünf, sechs oder gar zehn bis zwanzig Fehlern kommt, dann geht das Virus zugrunde. Deshalb haben sich solche Viren durchgesetzt, die ein Reparatursystem besitzen. Normalerweise findet sich so ein System bei Bakterien und komplexeren Lebewesen bis hin zum Menschen. Und dieses Reparatursystem beruht darauf, dass, wenn bei der Vermehrung ein Fehler auftritt, ein Schneideenzym kommt und den Fehler herausschneidet. Bei Viren kennt man das nur von Coronaviren. Und wegen dieses Reparatursystems hat man gedacht, es wird nicht viele Mutationen geben.

Interview

Karin Mölling ist Virologin und war bis zu ihrer Emeritierung Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie an der Universität Zürich. Daneben war sie als Gastwissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik in Berlin tätig. Wichtige Forschungsergebnisse erzielte sie in der Krebs- und HIV-Forschung.

Im Fachjournal »Viruses« veröffentlichte sie kürzlich einen Artikel zur Evolution des Covid-19-Erregers (Within-host and Between-host evolution in Sars-CoV-2, new variant’s source. Viruses 2021, 13, 751. https://doi.org/10.3390/v13050751).

Dieses Reparatursystem ist auch der Grund, warum bisher erfolgreiche antivirale Medikamente bei Corona nicht funktionieren. Diese sind Bausteine, die ins Viruserbgut eingebaut werden, sogenannte Nukleosidanaloga. Die wirken gegen HIV und andere Viren zerstörerisch. Aber bei Coronaviren bemerkt dieses Kontrollenzym, nee, nee, das stimmt nicht, und schneidet den falschen Baustein gleich wieder aus.

Und wie erklärt man sich nun die doch in einigen Fällen zahlreichen Mutationen?

Wenn Sie ein Virus nehmen und Sie haben ganz viele Wirte, dann entstehen neue Varianten. Wenn Influenza beispielsweise in einen Hühnerstall mit 40 000 Hühnern durch den Kot eines Vogels fällt oder wenn so ein Virus an den Ganges gelangt, wo drei Millionen Pilger baden, dann kann das Virus plötzlich zahllose Wirte infizieren, dann wird es nicht etwa faul, sondern immer schneller. Viren sind immer ein Gemisch wie in einem Vogelschwarm, die sind nicht alle identisch. Und wenn plötzlich ganz viele Wirte beieinander sind, dann setzen sich aus dem Gemisch diejenigen durch, die sich am schnellsten weiterverbreiten. Wenn so viel Auswahl da ist, dann setzt sich die effektivste Virus-Variante durch. Nach Charles Darwin siegt die fitteste Variante - das ist nun vermutlich die neue Doppelmutante aus Indien.

In Großbritannien wurde auch eine sehr effektive Virus-Variante nachgewiesen - ganz ohne Großveranstaltungen. Es müssen also keine Massen sein.

Wie die englische Variante oder die in Südafrika entstanden ist, weiß man nicht genau. Es gibt noch einen zweiten Weg. Wenn bei einem Individuum das Immunsystem beeinträchtigt ist, dann kann sich das Virus stark vermehren, weil es auf keine Gegenwehr trifft. Es gibt da kein Immunsystem, das die Vermehrung unterdrückt. Auch da haben dann die schnellsten Varianten den Vorteil. Der einzige Unterschied liegt darin - hier geschieht alles in einem einzigen Wirt, wo dann täglich Millionen neue Viren entstehen. Bei religiösen Massenveranstaltungen sind es statt dessen Millionen Wirte, die alle viele Varianten erzeugen.

Ein unterdrücktes Immunsystem kann bei Menschen mit Aids auftreten oder bei Patienten nach einer Organtransplantation oder bei Krebstherapien, wo Medikamente das Immunsystem unterdrücken. Die Therapie solcher Patienten erfolgt wie etwa bei dem früheren US-Präsidenten Donald Trump mit synthetischen Antikörpern in einem Cocktail. Das ist eine passive Immunisierung, die sehr schnell gegen das Virus wirkt.

Bei solchen Immunsuppressionen gibt es bei einer Covid-19-Infektion ein bemerkenswertes Problem: Der Patient merkt nichts von der Infektion und der Arzt auch nicht, wenn der Patient nicht getestet wird. Es gab im vorigen Jahr ja so eine Situation im Uniklinikum Hamburg-Eppendorf. Da hat ein Mitarbeiter viele Patienten auf der Krebsstation angesteckt. Doch die immunsupprimierten Patienten hatten keine Corona-Krankheitssymptome. Denn normale Corona-Patienten erkranken oft daran, dass ihr Immunsystem hyperaktiv auf das Virus reagiert.

Weil das Immunsystem gewissermaßen durchdreht?

Durchdrehen ist jetzt Ihre Formulierung - wir sagen dazu Zytokinsturm, an dem viele Patienten dann sterben. Da reagiert das Immunsystem über, dreht durch! Das war auch schon bei der sogenannten Spanischen Grippe 1918 die wichtigste Todesursache. Doch wenn das Immunsystem unterdrückt wird, bleibt dieser Zytokinsturm aus. Diese Leute sterben dann an allen möglichen anderen Dingen, jedoch nicht am Coronavirus. Jedoch produzieren sie beliebig viele neue Viren, auch solche mit Mutationen, neue Varianten.

Der Patient Null lässt sich also vermutlich auch in England nicht mehr finden ...

Vermutlich nicht. Ob die Mutation sich in England bei Menschen mit eingeschränktem Immunsystem herausbildete, lässt sich leider nicht mehr rekonstruieren. Aber wahrscheinlich ist es.

In Angola wurde mittlerweile eine Virus-Variante gefunden mit 40 Mutationen auf einen Streich! Das kann eigentlich nur in Immunsupprimierten passieren, zum Beispiel bei HIV-Infizierten, von denen es dort nicht wenige gibt. Von allein entstehen bei Corona im Menschen sonst zwei Mutationen pro Monat - bei Patienten ohne Immunsystem bilden sich also neue Mutationen im Zeitraffer!

Das sind die zwei Möglichkeiten: Veränderungen im Wirt. Das nennen wir In-host-Reaktion oder bei vielen Wirten Between-host. Das Ergebnis ist in beiden Fällen: Die Ansteckendsten setzen sich durch.

Inzwischen haben sich ähnliche Mutationen an verschiedenen Orten der Welt unabhängig voneinander durchgesetzt - es gibt also eine Art konvergente Evolution. Setzen sich also die Mutationen durch, die für das Virus nützlich sind?

Das ist so. Einige identische Mutationen sind mehrfach spontan aufgetreten, die sind günstig für die Bindung an den Zellrezeptor, sie binden oft besonders stark. Aber zu unserem Glück betreffen die allermeisten Mutationen, deren Wirkung wir bisher abschätzen können, die Spikes oder Glykoproteine auf der Oberfläche, die der Virus benötigt, um an der Wirtszelle anzudocken und dann in diese einzudringen.

Sie meinen die sogenannten Spikes der Viren?

Genau die. Im Spike selber gibt es noch eine wichtige Region, die Rezeptor-Bindedomäne. Dort findet man die häufigsten Mutationen, in Großbritannien die Mutation N501Y, in Südafrika E484K und bei der neuen indischen Variante die Mutation T478K. Die befinden sich alle im Bereich der Rezeptor-Bindedomäne. Und das ist günstig, denn die aktuell bei uns eingesetzten Impfstoffe decken das gesamte Spikeprotein ab, beim Biontech- oder auch beim Moderna-Impfstoff. Wenn wir Glück haben, fallen da die zwei, drei Mutationen nicht so ins Gewicht. Die Rezeptor-Bindedomäne ist ungefähr 30 bis 50 Aminosäuren groß, da gehen zwei, drei Mutationen im Gesamten unter.

Die Impfstoffe wirken also weiter, auch gegen die Mutanten?

Ja, und das kann man gut testen. Man infiziert dazu im Labor eine Zellkultur mit der Mutante, gibt den Antikörper drauf und testet, ob er immer noch schützt. Vielleicht nicht zu 97 Prozent, vielleicht nur zu 85 oder 75 Prozent, das weiß ich nicht. Aber diesen Test machen die Hersteller sofort. Und Moderna und Biontech haben dabei schon die neue Messenger-RNA für die Mutante, also den neuen Impfstoff! Das geht ja jetzt alles wunderbar schnell.

Gilt das für alle derzeit verimpften Vakzine?

Es gibt auch Impfstoffe mit Peptiden und Proteinen. Die könnten sich anders verhalten.

Sie meinen Impfstoffe aus Virusbausteinen?

Ja! Das sind eben nur Bausteine, und da bin ich nicht sicher, ob das ganze Spike-Protein von ihnen erkannt wird.

Müssen wir uns auf eine Entwicklung wie bei der saisonalen Grippe einstellen, wo wir praktisch jedes Jahr einen neuen Impfstoff brauchen?

Das wage ich nicht vorherzusagen. Unser eigenes Immunsystem lässt ja auch nach. Wie schnell die Impfwirkung nachlässt, weiß ich nicht. Aber ich gehe davon aus, dass wir durchaus in einem Abstand von ein oder zwei Jahren eine weitere Impfung brauchen, bis auch die neuen Mutanten endemisch werden. Vielleicht brauchen wir nicht nur eine Auffrischung, sondern auch einen neuen Impfstoff gegen neue Varianten - wie bei der Influenza-Impfung.

Wenn die Viren nun offenbar eine evolutionäre Anpassung durchlaufen, wie sieht die aus: Wird der Covid-19-Erreger ansteckender und zugleich der Krankheitsverlauf milder?

Eigentlich ist von der Evolution kein Selektionsdruck da, dass diese Viren schlimmer werden oder milder in Bezug auf die Erkrankung. Kann beides passieren. Die Selektion erfolgt ja nicht nach der Krankheit. Die evolutionäre Anpassung des Virus richtet sich nach der Schnelligkeit der Vermehrung, der Infektion. Ob das Virus dadurch schwächer wird für den Krankheitsverlauf - das weiß man nicht so genau.

In dem Zusammenhang lohnt es sich, an eine Pandemie von 1889 zu erinnern, die über zehn Jahre durch Russland bis nach Westeuropa und Indien ging. Diese Russische Grippe genannte Pandemie wurde höchstwahrscheinlich von einem Coronavirus ausgelöst und forderte damals schon 1,5 Millionen Tote. Und zwar von einem der Viren, die wir heute zur winterlichen endemischen Coronaerkrankung zählen, wo es ein kleines Schnüpferli gibt. Dieses Isolat heißt OC43. Es ist zehn Jahre aufgeflackert, bis es wohl harmlos wurde.

Und wie kam man darauf, dass das damals ein Coronavirus war?

Aus folgendem Grund: Als man jetzt untersucht hat, was die Erkrankten damals über die Symptome zu Protokoll gegeben haben, fand man sehr oft, dass sie keinen Geruchs- und keinen Geschmackssinn hatten. Und das ist so für andere Viren wie bei Influenza nie beschrieben worden.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -