Verstoß gegen die Menschenrechte

Eine Delegation der Linkspartei besuchte das Lager Kara Tepe auf Lesbos und kritisierte die Zustände scharf - NGOs verklagen Frontex

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 5 Min.

Kleine Containerbehausungen stehen in der Nähe des Strands, daneben befinden sich Zelte und Dixietoiletten. Dutzende Menschen bahnen sich ihren Weg durch die schmalen Gassen der improvisierten Kleinstadt, laufen auf unebenem Kies, haben Stromkabel über den Köpfen. Die Bilder, die die Mitglieder der Linke-Delegation vom Flüchtlingslager Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos - dem Nachfolger des berüchtigten Lagers Moria - im Internet veröffentlicht haben, sprechen Bände.

Rund 6000 Menschen leben hier auf engem Raum, acht Duschen stehen ihnen zur Verfügung. Ein Drittel der Bewohner ist minderjährig. »Was wir hier gesehen haben, ist dysfunktional, eine humanitäre Katastrophe und steht nicht im Einklang mit den EU- und Menschenrechten«, sagte die Linke-Bundestagskandidatin Clara Anne Bünger dem »nd«. Teilweise seien die Zustände noch schlechter als im alten Lager Moria, besonders hinsichtlich der medizinischen Versorgung, der Bildungsmöglichkeiten, der Wasserversorgung, der Ausstattung für behinderte Menschen und der sanitären Anlagen. »Leute haben uns berichtet, dass sie weniger essen und trinken, damit sie nicht so oft auf Toilette müssen«, so die Politikerin. Dazu sei Kara Tepe noch abgeschotteter als sein Vorgänger und habe weniger Raum für die Selbstorganisation der Geflüchteten. »Bei nun fünf Jahren krassester Menschenrechtsverletzungen in den Lagern kann niemand sagen, dass dies nicht bewusst gemacht wird«, ist sich Bünger sicher.

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Die Politikerin, die auch die NGO »Equal Rights Beyond Borders« gründete, ist Teil der Delegation der Linkspartei, die das Elendslager in den vergangenen Tagen besichtigte und dabei auch mit verschiedenen Menschenrechtsorganisationen, Initiativen und Lokalpolitikern sprach. Weitere Teilnehmer waren der Abgeordnete Michel Brandt, die Ko-Vorsitzende Janine Wissler, die Ko-Vorsitzende der Bremer Linksfraktion Sofia Leonidakis und die Abgeordnete Gökay Akbulut. Auch bei den anderen Delegationsmitgliedern zeigte sich Entsetzen und Wut über die Zustände vor Ort. »Die Perspektivlosigkeit im Lager führt dazu, dass in den letzten Monaten viele Menschen, darunter auch Kinder, versucht haben, sich das Leben zu nehmen«, berichtete Akbulut dem »nd«.

Michel Brandt sprach ebenfalls von einer »menschenunwürdigen« Situation in Kara Tepe. »Gerade als Verursacherin des Leids muss die EU sofort handeln, die Lager auflösen und die Geflüchteten menschenwürdig unterbringen«, erklärte der Politiker gegenüber »nd«. Es sei für ihn ein Armutszeugnis, dass in Kara Tepe zivile Hilfsorganisationen das »Versagen« der EU auffangen müssten, obwohl der Staatenbund eigentlich die Ressourcen hätte, den Menschen vor Ort zu helfen. »Die für viele Geflüchtete traumatisierende Situation in den Lagern ist unter anderem Folge des EU-Türkei-Deals, mit dem Europa versucht, sich der Verantwortung für schutzsuchende Menschen zu entziehen«, betont Brandt auch die Rolle der EU. Wissler wiederum bezeichnete die Zustände in Kara Tepe als »absolut erschütternd«, die Camps müssten sofort aufgelöst werden, so die Ko-Vorsitzende. Sofia Leonidakis forderte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) auf, den Kommunen endlich die eigenständige Aufnahme von Geflüchteten aus griechischen Lagern zu ermöglichen. Bremen und andere Bundesländer seien dazu bereit und dürften nicht weiter gebremst werden. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums hat Deutschland seit April vergangenen Jahres 2765 Menschen aus Griechenland aufgenommen. Die Aufnahmezusagen seien damit erfüllt, heißt es dazu in einer Erklärung von Ende April 2021.

Kara Tepe wurde errichtet, nachdem das ursprüngliche Lager Moria im vergangenen Sommer bei einem Großbrand zerstört worden war. Damals waren über Nacht rund 10 000 Schutzsuchende obdachlos geworden. (»nd« berichtete). Im ursprünglichen Lager gab es immer wieder Proteste von Bewohnern, auch im neuen hatten Geflüchtete die Lebensbedingungen bereits in einem offenen Brief angeprangert.

Die Abschreckungspolitik der Lager würde jedoch nicht funktionieren ohne eine gleichzeitige rigorose Überwachung der Außengrenzen. Diese Aufgabe übernimmt die EU-Agentur Frontex. Zuletzt lief es jedoch nicht gut für die Grenzbeamten. Im Frühjahr häuften sich Berichte zu illegalen Pushbacks in die Türkei, es kam zu Ermittlungen der EU-Antibetrugsbehörde, das EU-Parlament setzte eine Kontrollgruppe ein - Politiker und NGOs aus verschiedenen Ländern forderten den Rücktritt von Frontex-Chef Fabrice Leggeri. Auch die SPD in Deutschland sprach sich für Reformen und personelle Konsequenzen aus. Die Spitze der Agentur selbst soll versucht haben, die Skandale zu vertuschen.

Leggeri dürfte auch jetzt wenig Grund zur Freude haben. Drei Nichtregierungsorganisationen haben jüngst im Namen von zwei Geflüchteten eine Klage wegen Menschenrechtsverletzungen gegen Frontex beim Europäischen Gerichtshof eingereicht. Die Betroffenen, ein unbegleiteter 15-Minderjähriger aus der Demokratischen Republik Kongo und eine Frau aus Burundi, seien im vergangenen Jahr auf der griechischen Insel Lesbos »gewaltsam zusammengetrieben, angegriffen, ausgeraubt, (...) kollektiv ausgewiesen und schließlich auf Flößen ohne Wasser, Nahrung oder Navigationsmöglichkeit auf dem Meer ausgesetzt worden«, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung der Organisationen. Beide seien so Opfer einer illegalen Pushback-Operation geworden, obwohl man sie als Asylsuchende nach internationalem Recht nicht hätte zurückschicken dürfen.

Beteiligt an der Klage ist die Menschenrechtsorganisation Front-Lex. Die Anwälte der Vereinigung erklärten, es sei das erste Mal im 17-jährigen Bestehen von Frontex, dass die Agentur sich vor dem Europäischen Gerichtshof verantworten müsse. Frontex wies wie bereits zuvor die Vorwürfe zurück und sprach von einer »Aktivisten-Agenda, die sich als juristischer Fall ausgibt«. Frontex-Sprecher Chris Borowski sagte gegenüber Medien, Ziel sei es, die Entschlossenheit der EU zum Schutz ihrer Grenzen zu untergraben.

Tatsächlich zeigt sich die Staatenunion bisher weiterhin sehr eifrig darin, Schutzsuchende an den Außengrenzen abzuweisen und zurückzudrängen. Nach Angaben des UNHCR fing die libysche Küstenwache in der Nacht zu Freitag 348 Schutzsuchende auf dem Mittelmeer ab und brachte sie zurück nach Tripolis. Bereits am Tag zuvor waren es 194 Menschen gewesen, darunter acht Frauen und zwei Kinder.

Die EU unterstützt die libysche Küstenwache bekanntermaßen mit Geldern, Trainings und Ausrüstung - Frontex-Beamte helfen offenbar aber auch ganz direkt bei der schmutzigen Arbeit im Mittelmeer. Laut Recherchen sollen Mitarbeiter der Grenzagentur die Koordinaten von Flüchtlingsbooten einfach über Whatsapp-Nachrichten an die libyschen Grenzer geschickt haben. Drei libysche Offiziere hatten dies gegenüber Medien bestätigt. Ein weiterer klarer Verstoß gegen EU-Recht.

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