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Ordentlicher Misserfolg
Abschlussbericht: Expertenkommission stellt Ermittlungsbehörden im Neukölln-Komplex gutes Zeugnis aus
Die Expert*innenkommission zur rechtsextremen Anschlagserie in Neukölln kritisiert in ihrem Abschlussbericht das Vorgehen der Sicherheits- und Justizbehörden, sieht jedoch keine Hinweise auf ein rechtsextremes Netzwerk. »Die Behörden haben ihre Arbeit grundsätzlich ordentlich durchgeführt«, sagte der frühere Bundesanwalt Herbert Diemer am Montag im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses. Auch wenn die mangelnden Ermittlungserfolge in der seit Jahren andauernden Terrorserie nicht auf rechtsextreme Strukturen zurückzuführen seien, sei die Kritik an der Polizeiarbeit »nachvollziehbar, da die Kommunikation mit den Betroffenen hätte besser sein können«, so Diemer.
Gemeinsam mit der ehemaligen Polizeipräsidentin von Eberswalde (Barnim), Uta Leichsenring, sollte Diemer die bisherige Ermittlungsarbeit im Neukölln-Komplex überprüfen und etwaige Versäumnisse finden. Seit Oktober habe man zahlreiche Gespräche mit Betroffenen, Amts- und Zivilpersonen geführt sowie umfangreiches Datenmaterial von Polizei, Verfassungsschutz und Justiz gesichtet. Diemer kritisierte, dass es bei Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz Umstände gegeben habe, »die kritikwürdig und verbesserungswürdig sind«. »Die Justiz hat den Seriencharakter erst ab 2016 wahrhaben wollen, obwohl entsprechende Berichte der Polizei vorgelegt worden sind.« Zudem habe die Staatsanwaltschaft Ermittlungsverfahren eingestellt, obwohl die Ermittlungen gegen ›unbekannt‹ noch liefen. »Das war völlig unnötig.«
Auch für unbefugte Datenabfragen bei der Polizei haben die beiden Sonderermittler*innen keine Belege gefunden. Allerdings wiesen sie darauf hin, dass es beim Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (Labo) ein großes Potenzial für unberechtigte Abfragen gebe. So hätten rund 1000 Menschen in Behörden und Bezirksämtern Zugriff auf gesperrte personenbezogene Daten, ohne dass die Abfragen kontrolliert würden. »Hier könnte die Kontrolle verbessert werden«, sagte Diemer.
Diemer und Leichsenring empfehlen in ihrem Abschlussbericht zudem einen besseren Datenaustausch der Behörden sowie eine spezialisierte Einheit innerhalb der Staatsanwaltschaft zu Rechtsextremismus. »Es bedarf ganzheitlicher Strategien beim Vorgehen gegen Rechtsextremismus«, sagte Leichsenring und regte die Einrichtung eines runden Tisches an, an dem neben Vertreter*innen der Polizei und des Bezirks auch Betroffene sowie Anwohner*inneninitiativen teilnehmen sollen. Diese hätten teilweise einen »Wissensvorsprung«, was die rechten Strukturen vor Ort angehe.
Seit Jahren werden Antifaschist*innen in Neukölln Opfer rechter Anschläge. Mindestens 72 Fälle zählt die Polizei, darunter 23 Brandstiftungen. Obwohl die mutmaßlichen Täter, die Neonazis Sebastian T., Tilo P. und Julian B., lange bekannt sind, gab es bislang keine Ermittlungserfolge. Ende 2020 wurden die beiden festgenommen, aber kurze Zeit später wieder freigelassen. Laut Innensenator Andreas Geisel (SPD) will die Staatsanwaltschaft demnächst Anklage erheben.
Den Verfassungsschutz beurteilen Leichsenring und Diemer als schlecht ausgestattet und überfordert. So gehe dessen technische Ausstattung »nicht ganz mit der Zeit«, sagte Leichsenring. Vieles würde händisch erledigt, etwa weil es keine elektronische Suchfunk᠆tion oder Möglichkeiten zur Datenanalyse gebe. Bei der Auswertung der Überwachung der Verdächtigen im Neukölln-Komplex habe der Geheimdienst vieles übersehen, weshalb die beiden Expert*innen eine Personalaufstockung empfehlen, um die Abhördaten erneut überprüfen zu lassen. Laut Geisel handelt es sich dabei um 27 000 Datensätze. Diese erneut zu überprüfen, sei ein erheblicher personeller Aufwand und sollte, wenn überhaupt, durch eine unabhängige Stelle außerhalb des Verfassungsschutzes geschehen.
Während sich SPD, CDU und FDP zufrieden zeigten, dass keine Belege für rechte Netzwerke in den Sicherheitsbehörden gefunden wurden, warnten Linke und Grüne vor voreiligen Schlussfolgerungen. Dass keine Belege dafür gefunden wurden, bedeute nicht, dass es keine derartigen Netzwerke gebe. Vieles finde außerhalb des Dienstes statt, sagten die innenpolitischen Sprecher der Linken, Niklas Schrader, und der Grünen, Benedikt Lux. Schrader sieht hier weiteren Aufklärungsbedarf und forderte, dass in der kommenden Legislaturperiode ein Untersuchungsausschuss zum Neukölln-Komplex eingerichtet wird, wie ihn auch Betroffene seit Jahren verlangen.
Der Neuköllner Linke-Politiker Ferat Kocak, der selbst Opfer eines Brandanschlags wurde, kritisierte gegenüber »nd« falsche Prioritäten der Senatsinnenverwaltung. »Wir brauchen keinen runden Tisch, auch nicht mehr Personal beim Verfassungsschutz, wir brauchen einen Untersuchungsausschuss.«
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